Inga Römer // „Die Metaphysik ist zunächst ein Problem“

Inga Römer ist Professorin für deutschsprachige Philosophie an der Université Grenoble Alpes. Vor kurzem erschien im Felix Meiner Verlag der Sammelband Phänomenologie und Metaphysik/Phénoménologie & Métaphysique, herausgegeben von Inga Römer und Alexander Schnell.

 Tobias Keiling: Für das Thema dieses Blogs klingt der Titel Eures Bandes ja mehr als einschlägig. Kannst Du kurz berichten, wie es zu der Publikation kam?

Inga Römer: Im Jahr 2014 ist László Tengelyi verstorben. Kurz vor seinem Tod hatte er ein umfangreiches Werk zum Problem phänomenologischer Metaphysik fertiggestellt: Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik. Alexander Schnell und mir war es ein Anliegen, unseren Freund und Mentor dadurch zu würdigen, dass wir zu einer weiterführenden Diskussion über das von ihm in den Vordergrund gerückte Thema anregen. Einige Autoren unseres Bandes setzen sich direkt mit László Tengelyis Vorschlägen auseinander, andere widmen sich dem Thema unabhängig davon. Es gab aber auch noch einen institutionellen Grund für das Entstehen des Bandes. Alexander Schnell wurde im Jahr 2016 auf den Lehrstuhl für Phänomenologie und theoretische Philosophie in Wuppertal berufen, während ich im selben Jahr eine Professur an der Université Grenoble Alpes annahm. Wir haben Ende 2017 in Wuppertal und in Grenoble zwei Tagungen zum Thema veranstaltet, zu denen wir jene Kollegen einluden, die sich als wichtige Stimmen zum Thema im deutsch- und im französischsprachigen Raum hervorgetan haben (keineswegs jedoch auf Deutschland und Frankreich reduziert). Es war und ist uns ein Anliegen, dazu beizutragen, dass der fruchtbare Dialog deutsch- und französischsprachiger Phänomenologie in der nächsten Generation weitergeführt wird. Die Frage nach dem Verhältnis der Phänomenologie zur Metaphysik ist eine der Hauptfragen (selbstverständlich nicht die einzige), die diesen Dialog seit langem kennzeichnen – bis in die jüngsten Entwicklungen hinein.

K. Und was für sachliche Schwerpunkte legt Ihr? Was bedeutet für Dich „phänomenologische Metaphysik“?

R. Die sachlichen Schwerpunkte wurden von den Autoren selbst gesetzt. Der von Alexander Schnell und mir vorgeschlagene Leitfaden ist überaus allgemein und schließt an einen Gedanken an, der im Untertitel des Buches von László Tengelyi formuliert wird. Es heißt dort nicht „phänomenologische Metaphysik“, ja noch nicht einmal „Grundlegung zu einer phänomenologischen Metaphysik“ (wie ein Arbeitstitel vorübergehend lautete), sondern „zum Problem phänomenologischer Metaphysik“. Für László Tengelyi – wie für uns – hat die Metaphysik nicht nur Probleme, die sie behandelt, sondern sie hat auch selbst einen problematischen Charakter. Man könnte sagen: Sie hat nicht nur Probleme, sondern sie ist selbst eines.

Dieser Problemcharakter der Metaphysik ist in der Geschichte der Phänomenologie durchaus ernst genommen worden. Historisch gesehen ist die Haltung der Phänomenologie zur Metaphysik ambivalent. Einerseits wurde eine bestimmte Form der Metaphysik abgelehnt, andererseits wurden Versuche gemacht, metaphysische Fragen aus phänomenologischer Sicht neu zu stellen und auch zu beantworten. Diese ambivalente Haltung der Phänomenologie zur Metaphysik ist damit verknüpft, dass die Phänomenologie einerseits versucht hat, Kants Kritik der Metaphysik mit phänomenologischen Mitteln weiterzuführen, andererseits, übrigens auch wie Kant, nach einer neuartigen Figur metaphysischer Fragen und Antworten zu suchen. Während einige aktuelle Versuche einer Renaissance der Metaphysik dazu zu tendieren scheinen, hinter die Kritik an der Metaphysik zurückzufallen, sucht die Phänomenologie nach einem metaphysischen Fragen, das die seit dem 18. Jahrhundert formulierten kritischen Einwände berücksichtigt und integriert. Gerade aufgrund dieser Vorsicht in Hinblick auf metaphysische Fragen vermag die Phänomenologie aus unserer Sicht zu der aktuellen Debatte um eine Renaissance der Metaphysik einen bedeutsamen Beitrag zu leisten.

K. Eine Möglichkeit, diesen Ansatz einer kritischen Metaphysik genauer zu bestimmen besteht darin, sie als Transzendentalphilosophie zu verstehen. Würdest Du da mitgehen? Oder was zeichnet die spezifische Fragerichtung der Phänomenologie aus?

R. Merleau-Ponty schreibt im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung, die Phänomenologie sei kein System und keine Lehre, sondern eine Bewegung, mühsam wie das Werk von Balzac, Proust, Valéry oder Cézanne. In diesem Sinne scheint es mir auch keine einfache Antwort auf „die spezifische Fragerichtung der Phänomenologie“ in Hinblick auf das Problem der Metaphysik zu geben. Es kommt darauf an, welchen Phänomenologen man befragt.

K. Die Zurückhaltung verstehe ich gut – es gibt oft eine Spannung zwischen programmatischer Festlegung auf der einen Seite – das ist Phänomenologie, das soll sie sein – und den sehr verschiedenen Fragen und Perspektiven, mit denen eine Phänomenologin, ein Phänomenologe jeweils ans Werk geht. Aber da ich gerade mit einer Phänomenologin spreche: Wie würdest Du das Problem der Metaphysik bestimmen, und wie konkretisiert sich für Dich eine phänomenologische Herangehensweise?

R. Die Phänomenologie beginnt mit Husserls Aufruf „Zu den Sachen selbst!“ – und doch stehen auch Phänomenologen, wenn Sie diesem Aufruf zu folgen versuchen, in einer Überlieferungsgeschichte. Sie können sich von dieser Geschichte unbewusst bestimmen lassen, oder aber versuchen, sie sich zumindest in Teilen bewusst zu machen. Meines Erachtens muss sie den an zweiter Stelle genannten Weg einschlagen, da sie ansonsten Gefahr läuft, unbemerkt von überlieferten Begriffen bestimmt zu werden. Die Aufgabe des Phänomenologen ist dann, die Sache selbst so in den Blick zu nehmen, dass die Spannung zwischen dem mir jetzt gegebenen Phänomen und der herausgearbeiteten Überlieferungsfigur untersucht wird, um aus dieser Spannung heraus zu einer neuen, am Phänomen erprobten Denkfigur zu gelangen. Ich nenne dieses Verfahren eine kritisch-hermeneutische Phänomenologie (sie hat aber durchaus auch eine Nähe zu Adornos negativer Dialektik). Wie kann eine derartig verstandene Phänomenologie nun auf das Problem der Metaphysik angewendet werden? Indem man eine besonders differenzierte Denkfigur aus der Metaphysikgeschichte herausarbeitet und phänomenologisch auf die Probe stellt.

Vortrag von Inga Römer: „Was ist phänomenologische Metaphysik?“
Internationales Zentrum für Philosophie NRW, Universität Bonn, 2016

K. Wenn ich Dich richtig verstehe, versucht Du, den phänomenologischen Denkstil oder den phänomenologischen Ansatz in der Metaphysik also vor allem im Kontrast zu anderen Optionen aus der Geschichte der Philosophie zu bestimmen. An welche Figuren denkst Du konkret?

R. Es gibt selbstverständlich eine ganze Reihe von metaphysischen Konzeptionen, die hierfür in Frage kommen. Für mich ist die trefflichste das Denken Immanuel Kants. Kant hat sowohl eine scharfe Kritik an der Metaphysik formuliert als auch sein Leben lang nach einer neuartigen, nämlich kritischen Metaphysik gesucht. Diese doppelte Motivation macht seine Philosophie aus meiner Sicht besonders geeignet. Kant reduziert die ererbte Transzendentalphilosophie von einer Wissenschaft des Dinges als Dinges überhaupt auf eine Disziplin, die den Gegenstand der uns möglichen Erfahrung als solchen Gegenstand überhaupt untersucht. Diese Disziplin ist ihm zugleich die kritisch mögliche Ontologie. In den um 1793 verfassten Skizzen für eine Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (ein meines Erachtens viel zu wenig beachtetes Fragment) sagt Kant allerdings, dass diese Transzendentalphilosophie und Ontologie nur der Vorhof zur Metaphysik sei, jedoch nicht eigentlich zur Metaphysik gehöre, da die Metaphysik im eigentlichen Sinne es mit dem Übersinnlichen zu tun habe. Metaphysik ist ihm nunmehr die metaphysica specialis, welche sich mit den Fragen nach der Seele, der Welt und der Freiheit und mit Gott befasst.

K. Das heißt, Du würdest diese Denkfigur Kants für die Phänomenologie übernehmen? Vor allem Kants Verweis auf das „Übersinnliche“ scheint mir aus phänomenologischer Sicht problematisch oder zumindest ergänzungsbedürftig.

R. Das wäre zu stark gesprochen. Ich möchte diese Denkfigur Kants nicht für die Phänomenologie übernehmen, sondern sie an der Phänomenologie erproben und die Phänomenologie an ihr. Wenn Du erlaubst, würde ich daher vor der Beantwortung Deiner – völlig trefflichen – Frage nach dem Übersinnlichen zunächst auf die Frage nach Transzendentalphilosophie, Ontologie und Metaphysik in der Phänomenologie zu sprechen kommen.

Für mich ist Husserl maßgeblich für eine phänomenologische Reformulierung der Transzendentalphilosophie und Ontologie, während Heidegger, vor allem aber Levinas für die Frage nach der Metaphysik leitend sind. An dieser Antwort sieht man übrigens, dass heutige Phänomenologen, die in einer über einhundert Jahre alten Tradition stehen, auch die Denkfiguren ihrer eigenen Vorgänger eigens herausarbeiten müssen, um die Phänomene an ihnen zu erproben… Husserl hat (über seine neukantianisch inspirierte Kritik an einem Anthropologismus Kants hinaus) betont, dass eine phänomenologische Transzendentalphilosophie und Ontologie sich nicht auf die Bestimmung des Gegenstandes der Erfahrung überhaupt beschränken kann, sondern dass sie die Verschiedenheit der Gegenstandsbereiche berücksichtigen muss. Am Leitfaden eines Gegenstandes, der als Ausgangspunkt dient, sucht der Phänomenologe durch eidetische Variation nach dem phänomenologischen Wesen des Gegenstandes dieser Region. Das Ergebnis ist im Idealfall eine regionale Ontologie, etwa für die Region Natur, Geschichte, Mathematik oder auch fiktionale Literatur. Wie aber hängen diese verschiedenen regionalen Ontologien zusammen? Lassen sie sich von einer allgemeinen Ontologie des Gegenstandes als Gegenstandes überhaupt noch umfassen? Husserl spricht durchaus von einer formalen Ontologie, einer eidetischen Wissenschaft vom Gegenstande überhaupt bzw. vom „Etwas überhaupt“. Er betont jedoch, dass der Gegenstand der formalen Ontologie nicht eine allgemeinere Region in einer Reihe mit den materialen Ontologien ist, sondern es handele sich bei ihrem Gegenstand lediglich um die leere Form von Region überhaupt. Die leere Form von Region überhaupt aber ist unerfüllt durch eine Anschauung, die nach dem Prinzip der Prinzipien nötig wäre, um – kantisch gesprochen – die objektive Realität eines solchen Gegenstandes überhaupt auszuweisen.

Aus meiner Sicht verweisen diese aus den Ideen I stammenden Überlegungen Husserls auf ein transzendentalphilosophisches und ontologisches Programm, das noch heute Aufgabe der Phänomenologie ist: mithilfe des Prinzips der Prinzipen und dem Verfahren der eidetischen Variation nach regionalen Ontologien zu suchen und ihre Verhältnissen untereinander zu studieren, Verhältnisse, die vermutlich weniger hierarchisch als netzartig sind. Ein Netz regionaler Ontologien träte an die Stelle einer einzigen Ontologie des Gegenstandes überhaupt. Bei diesem Vorhaben steht der Phänomenologe jedoch vor dem Problem, welchen Gegenstand er als Ausgangspunkt einer Variation in Hinblick auf eine bestimmte Region nehmen soll, ja wie sich Regionen überhaupt bilden.

K. Wenn ich Dich richtig verstehe, willst Du Kants Rede vom Übersinnlichen also nicht einfach folgen, sondern schlägst zunächst vor, die Verankerung der Metaphysik in der Erfahrung, im Gegebenen, in der Faktizität für die verschiedene Teilbereiche der Wirklichkeit unterschiedlich zu konzipieren – mit Husserl. Kann dabei auch einer Geschichtlichkeit der Befunde Rechnung getragen werden?

R. Aus meiner Sicht gilt das kantische Wort von der Transzendentalphilosophie und Ontologie als bloßer Vorhof der Metaphysik (der es (noch) nicht mit dem Übersinnlichen zu tun hat und daher nicht eigentlich Metaphysik genannt zu werden verdient) umso stärker für die Phänomenologie. Der Grund dafür ist, dass wir es in der Phänomenologie nicht nur mit einem pluralen Netz regionaler Ontologien zu tun haben, sondern dass diese überdies eine historische Wandelbarkeit aufweisen. Husserl ist vor allem in seiner Spätzeit auf das Problem der Geschichtlichkeit eingegangen. Allerdings scheint er dabei jedoch stets an dem Ideal einer vollständigen Bestimmung, die letztlich die geschichtliche Relativität überwinden würde, festgehalten zu haben. Wir stehen aber immer mitten drin in der Geschichte und niemals an ihrem Ende. Daher ist dieses Ideal, selbst als bloßes Ideal, noch in Frage zu stellen. Was aber bedeutet diese Radikalisierung des Problems der Geschichtlichkeit für die Frage nach einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie und Ontologie? Um einen trefflichen Ausgangspunkt für unsere eidetische Variation zu finden, können wir uns weder auf das bloße Gegebensein eines wahrnehmungsmäßig oder phantasiemäßig gegebenen Ausgangsexempels beschränken, noch auf das Verständnis des Gegenstandes innerhalb eines bestimmten überlieferten Theorierahmens. Genauso wie wir als Phänomenologen die philosophische Überlieferungsgeschichte mit ihren Denkfiguren erforschen müssen, müssen wir auch die Wissenschaftsgeschichte und, allgemeiner gesprochen, die Geschichte der Disziplinen erforschen.

Zu achten haben wir dann gerade auf die Spannungen zwischen dem regionalontologischen Gegenstandsverständnis in einer Disziplin und unserer Erfahrung. Die Erforschung eben dieser Spannung mithilfe einer kritisch-hermeneutischen Phänomenologie kann zu Verschiebungen von Regionen, ihrer Verhältnisse untereinander und der jeweiligen regionalen Gegenstandsbestimmungen führen. Ja, es kann sogar dazu kommen, neue regionale Ontologien zu entdecken, womöglich gar solche, in denen der Gegenstandsbegriff entweder aufgegeben, oder zumindest erweitert werden muss, damit er so etwas wie Ereignisse oder Sachverhalte zu umfassen vermag. Dies sind große Aufgaben für die Phänomenologie, die es aus meiner Sicht in weiten Teilen noch zu bearbeiten gilt. Die Erforschung der genannten Spannung zwischen etablierten Denkfiguren und Disziplinen einerseits und lebendiger Erfahrung andererseits führt auf ein werdendes Netz regionaler Ontologien, in Hinblick auf das Entdecken und Erschaffen ineinandergreifen. Weder entdecken wir bloß theoriefrei und ohne jegliches „Ideenkleid“, noch kreieren wir Gegenstandsbegriffe, die rein aus ihrer Funktion in bestimmten Theorien entspringen. Es handelt sich vielmehr um ein Ineinander, das Proust in seiner literarischen Wesenserforschung in dem Satz pointiert hat „Chercher? pas seulement: créer“, „Suchen? Nicht nur: erschaffen“. Dieses historisch dynamische Netz regionaler Ontologien sollten wir jedoch meines Erachtens nicht als Metaphysik bezeichnen. Sie sind nicht eigentlich méta ta physiká, sondern bleiben unmittelbar bezogen auf das in der Erfahrung sich Zeigende und immer wieder Verschiebende.

K. Und was wäre dann aus Deiner Sicht phänomenologische Metaphysik im eigentlichen Sinne?

R. „méta ta physiká“ liegt das Ethische, das wesentlich anders beschaffen ist als das Streben nach Erkenntnis, sei sie transzendental, ontologisch oder empirisch. In der phänomenologischen Bewegung ist es Emmanuel Levinas, der dies am deutlichsten gesehen hat und er folgt damit einer kantischen Grundfigur. Für mich ist eine kleine Schrift von Levinas besonders bedeutsam, in der er seine Phänomenologie des Anspruchs des Anderen jenseits des Seins mit Kants reiner praktischer Vernunft, als ebenfalls einem Jenseits des Seins, in Verbindung gebracht hat. Es ist mir eine Aufgabe, diese Andeutung Levinas’ – denn um mehr handelt es sich kaum – zum Leitfaden einer ethisch bedeutsamen phänomenologischen Metaphysik in kritisch-hermeneutischer Hinsicht zu machen. Um noch einmal das drohende Missverständnis von vorhin zu vermeiden: Es handelt sich nicht darum, Kants Perspektive zu übernehmen, die Unterschiede zu nivellieren und so zu tun, als sei Levinas am Ende eigentlich Kant. Nein, es geht darum, die kantische Denkfigur eines Übersinnlichen, das ausschließlich im Ausgang von den Grenzen der Erfahrung und dem moralphilosophischen „Faktum der Vernunft“ erreichbar ist, mit Levinas’ Phänomenologie des Gesichts (sowie mit Levinas’ eigenen Stellungnahmen zu Kant) zu konfrontieren. Um die phänomenologische Transposition einer von Kant bloß inspirierten ethisch bedeutsamen Metaphysik zu erforschen, ist meines Erachtens noch auf einen anderen Aspekt einzugehen, der bei den frühen Phänomenologen zwar durchaus präsent ist, jedoch nicht immer hinreichend betont wurde: Der Phänomenologe ist durch und durch von Trieb und Begehren bestimmt, nicht nur im Praktischen, sondern auch im Theoretischen. Ich möchte, wenn Du noch einmal einen Umweg erlaubst, dies mit einem Eingehen auf Husserl und Heidegger erläutern, bevor ich dann noch einmal auf Levinas und die Fragen nach einer phänomenologischen Metaphysik im eigentlichen Sinne sowie auf die nach dem Übersinnlichen zurückkomme.

Bei Husserl ist in dieser Hinsicht das bedeutsam, was er als Triebintentionalität bezeichnet, bei Heidegger der aus einem Drang stammende Weltentwurf. Zunächst zu Husserl. Husserl vertritt die Auffassung, dass diesseits einer jeden auf einen Gegenstand gerichteten Intentionalität eine Triebintentionalität waltet, in der etwas triebmäßig intendiert wird, dessen genaue Gestalt noch nicht feststeht. Erst wenn wir einen Gegenstand finden, denken oder sagen wir „Das ist es, was ich suchte!“. Diese Triebintentionalität ist aber auch immer schon am Werk, wenn wir über die oben beschriebene Methode nach trefflichen regionalen Ontologien suchen. Wir haben als Phänomenologen also nicht nur auf die Spannung zwischen überlieferten Disziplinen und unseren Erfahrungen zu achten, sondern wir müssen auch ein besonders Augenmerk auf das Walten dieser so gearteten Triebintentionalität legen. So ein triebmäßiges Moment gibt es jedoch nicht nur in Hinblick auf einzelne Gegenstände, sondern auch hinsichtlich der Welt überhaupt.

Heidegger hat in seiner letzten Marburger Vorlesung in Auseinandersetzung mit Leibnizens Begriff einer vis activa den Gedanken eines Weltentwurfes entwickelt, der nicht nur einzelne Seiende, sondern das Seiende im Ganzen zu erfassen sucht. Dieser Weltentwurf entspringt nach Heidegger einem geschichtlich geprägten Drang. Der geschichtlich Existierende und in seiner Epoche Verwurzelte, entwirft über das Seiende hinaus ein Verständnis des Seienden im Ganzen, ein Verständnis, das jedoch zwangsläufig endlich, unvollständig und geschichtlich orientiert bleibt. Heidegger selbst spricht hier von einer Metaphysik des Daseins, und mit dem metaphysischen Entwurf des Seienden im Ganzen sucht er das aristotelische Gottesproblem als ein metaphysisches Weltproblem zu formulieren. Ich würde jedoch eher sagen, dass das Dasein im Menschen sich hier zwar als Metaphysiker versucht, es ihm jedoch nicht gelingt, sich vom geschichtlich geprägten Drang zu lösen. Es glaubt, das Seiende im Ganzen zu erfassen, verkennt jedoch, dass es stets nur eine endliche Perspektive erreicht, die aus seiner jeweils spezifischen geschichtlichen Verwicklung entspringt. Damit ist jedoch zugleich die Gefahr verbunden, dass das Dasein seinen Weltentwurf für den einzig möglichen hält. Es sucht nach einem metaphysischen Verständnis des Seienden im Ganzen, aber es erreicht nur einen endlichen Weltentwurf – der mit dieser Gefahr der Verwechslung behaftet ist, eine Gefahr, die in einigen historischen Epochen größer ist als in anderen.

K. Wenn ich das recht verstehe, dann kann man das auch als Scheitern der Seinsfrage beschreiben. Du würdest also sagen, dass es sich bei Heidegger entgegen seiner eigenen Behauptung nicht eigentlich um Metaphysik handelt?

Ja, genau. Phänomenologische Metaphysik im eigentlichen Sinne kommt aus meiner Sicht erst da auf, wo diese in letzter Instanz von Trieb und Drang gesteuerte Ausbildung von regionalen Ontologien und Weltentwürfen durch einen Sinn unterbrochen und in Frage gestellt wird, der sich im Gesicht des anderen Menschen als eines Anderen zeigt. Dieser Sinn ist, mit Levinas’ Worten, eine Rede, die zum Eingehen auf die Rede verpflichtet (Discours qui oblige à entrer dans le discours). Der Andere fordert in einem ethischen Sinne dazu auf, ihn nicht zu bekämpfen und nicht zu töten, sondern mit ihm zu sprechen und auf seinen Anspruch einzugehen. Er fordert jedoch zugleich damit dazu auf, die eigene Sicht auf die Dinge und die Welt in Frage zu stellen und sie ihm nicht mit schierer Macht aufzudrängen. Erst dieser Diskurs, den Levinas selbst als eine phänomenologische Umarbeitung von Kants reiner praktischer Vernunft versteht, sowie die durch ihn eingesetzte Freiheit verdienen es recht eigentlich, unter dem Titel einer phänomenologischen Metaphysik erörtert zu werden. Es gibt zwar die Suche nach regionalen Ontologien und ihrer Vernetzung, es gibt Versuche von Weltentwürfen. Eine phänomenologische Metaphysik im eigentlichen Sinne beginnt jedoch erst mit dem Sinn jenseits des Seins, des Dranges und der Macht. Und nun endlich zurück zu Deiner in der Schwebe gebliebenen Frage nach dem Übersinnlichen. Die kantische Figur des „Übersinnlichen“ wird bei Levinas zum Begehren des Anderen, welches durch den ethischen Sinn jenseits des Seins strukturiert wird und das Streben nach Erkenntnis und Herrschaft durch ethische Bedeutsamkeit unterbricht. Es handelt sich dabei um ein Übersinnliches im Sinnlichen selbst, um eine ethische Bedeutsamkeit, die in das Fühlen und Begehren selbst eindringt. (Es ist hier nicht unser Thema, aber meines Erachtens lässt sich auch umgekehrt, inspiriert von der Phänomenologie und vor allem von Levinas, bei Kant selbst eine ähnliche Figur finden, zumindest im Sinne eines projizierten Zieles. Nach dem späten Kant ist der Mensch dazu aufgefordert, das von ihm selbst projizierte Jenseits dieser Welt, das Übersinnliche reiner praktischer Vernunft, in diese Welt einzuführen.)

K. Aber warum ist die phänomenologische Metaphysik notwendig ethisch? Kann sich das Scheitern metaphysischer Bestrebungen nicht auch anders bekunden denn als ethisch?

Die phänomenologischen Untersuchungen haben auf das geführt, was Heidegger offenbar einmal eine „Phänomenologie des Unscheinbaren“ genannt hat. Seit Jahrzehnten ist es eine Hauptfrage der Phänomenologie, wie dieses Unscheinbare charakterisiert werden kann und wie sich das in jener Formulierung steckende Paradox verstehen lässt. Gibt es nicht etwa verschiedenartige Entzugsfiguren, die im Phänomen auf das Unscheinbare und damit auf die Grenzen der Phänomenalität verweisen? Durchaus. Mein Verdacht ist jedoch, dass die meisten der vorgeschlagenen Entzugsfiguren zwar das Scheitern der Metaphysik in ihrer theoretischen Grundausrichtung deutlich machen, jedoch nicht in einem positiven Sinne zu einer neuartigen phänomenologischen Metaphysik hinausweisen. Nicht ohne Grund war die Phänomenologie jahrzehntelang in erster Linie metaphysikkritisch. Sie bewegte sich gleichsam im Fahrwasser der transzendentalen Dialektik von Kants erster Kritik, der zufolge eine Phänomenalisierung der Totalität unmöglich ist. Kant aber gelangt von diesem negativen Ergebnis über seine praktische Philosophie schließlich zu einem positiven Ergebnis, demzufolge eine neue, ganz anders geartete Metaphsik kritisch möglich sei. Levinas ist aus meiner Sicht derjenige Denker, der in seiner von ihm so bezeichneten „Phänomenologie des Gesichts“ immer schon diese Möglichkeit eines neuartigen, ethisch bedeutsamen Metaphysiktypus gesehen hat – und dies für die Phänomenologie.

Nun habe ich so viel gesprochen und doch Wesentliches unerwähnt gelassen. Das alles hat etwa aus meiner Sicht auch noch ganz grundlegend mit der Zeit zu tun. Aber das würde hier wohl zu weit führen…

K. … es würde mich aber interessieren. Vielleicht möchtest Du diesen letzten Schritt noch erklären? Du hast auf jeden Fall ein wirkliches Panorama der Metaphysik gegeben, vielen herzlichen Dank!

R. Ich ringe mit der Zeit seit ich versuche, mich mit der Phänomenologie im Denken zu orientieren. Bisher jedenfalls bin ich dabei nicht weit genug gekommen, um die Frage nach dem Zusammenhang von Transzendentalphilosophie, Ontologie und Metaphysik mit der Zeit in wenigen Zeilen beantworten zu können! Vielen herzlichen Dank, lieber Tobias, für diese Momente des symphilosophein (auch hinter den Kulissen des geschriebenen Interviews), die für mich überaus anregend waren.

Tobias Keiling // „Now it’s for our readers to judge“

Tobias Keiling received a PhD from Boston College and a Dr. phil. from the University of Freiburg. Now based at the University of Bonn, he is currently a Feodor Lynen-Fellow of the Alexander von Humboldt-Foundation at Somerville College, Oxford University. He was PI of the networking project Phänomenologie und Metaphysik der Welt funded by Deutsche Forschungsgemeinschaft. A few days ago, the volume Phänomenologische Metaphysik. Konturen eines Problems seit Husserl (Phenomenological Metaphysics: Contours of a Problem since Husserl) came out in the UTB book series. He is interviewed by Thomas Arnold, one of the members of the research network and co-author of the introduction to the volume. Many (German) universities hold the book free of charge in their collection of UTB books.

Thomas Arnold: Given that we want this to be a little bit of a teaser for our book, let’s get down to business right away: what is phenomenological metaphysics?

Tobias Keiling: I don’t have a ready answer to that question, though I have grappled with it for a few years now.  Something you very much insisted on when writing the introduction to our book is, I think, vital: there is no unitary meaning to “metaphysics,” and one must pay attention to a particular context and distinguish different respects in which it is used, for instance: does “metaphysics” refer to an area of philosophy or to a specific way of philosophizing?  For me, phenomenological metaphysics is a perspective on questions that have been with us at least since Plato and Aristotle, questions about the true nature of things, the meaning of existence, the place of human beings in the world, about fundamental commitments such as to realism or idealism etc.  These questions have come to determine, in part at least, what we understand by “metaphysics”, and when treating these questions today, it would be naïve to disregard this history.

A. Fair enough. But what is the specifically “phenomenological” take on metaphysics?

K. What is striking about many of the phenomenological authors we present in the volume is that they see the need for some kind of fresh start.  Personally, I think this has much to do with broader 20th century history: the wish to do something new, to be modern, also the feeling that the times require a “renewal” or a “new beginning” of philosophy, as with Husserl and Heidegger.  But already those two have very different ideas about what is wrong with philosophy as it had been done and how the new should look like.  So even if there is a shared motivation to take on a new metaphysics, there is no consenus between phenomenologists on the substantial claims.  One thing the compendium shows is that very different doctrines have been associated with phenomenology.  There is good reason, I think, why the core-group of contributors decided that the sub-title make clear that “phenomenological metaphysics” is the name for a problem and an object of discussion, not that of a positive philosophical agenda.

A. Since you are talking about Heidegger, does he not urge us to “overcome” metaphysics? And have not other phenomenologists also argued against metaphysics as such?

K. You are right, there are authors who hold metaphysics in scant regard, and yet we would like to count them among the phenomenologists: Heidegger, perhaps Derrida.  Levinas argues we should embrace metaphysics but abandon ontology.  Generally, I think the development is similar to that in 20thcentury analytic philosophy, which has worked its way back from Carnap’s suspicion that metaphysics is just nonsense to extended, often very speculative and quite technical debates.  But it have been Continental authors such as Heidegger, Adorno or Foucault that have helped us understand that there are always metaphysical assumptions in the background of what we do, of what we take to be real, etc.  The aim of doing metaphysics, I think, is that we should become able to evaluate our background understanding, which is not the same as to say there is a right set of assumptions to have.  On the contrary, I think metaphysics is a branch of philosophy where it is particularly easy to go wrong.

A. So you are saying that, on one hand, we will always be dealing with metaphysics but phenomenologists, on the other hand, do not have a single idea about how to do so.

K. Roughly, yes.  One thing I have learned over the last years is that there should be no substantial metaphysical commitments written into the definition of phenomenology.  One reason for this is the fact that the history of phenomenology is simply to diverse.  Another reason for me is that I think Husserl is right to insist that phenomenology must be a particular method or way of philosophizing. Because if it is not, you lose the critical stance.  To give you a more recent example: around 2000, there was a debate between Dan Zahavi and Jocelyn Benoist on whether Husserl’s Logical Investigations and phenomenology in general are “metaphysically neutral.”  There is still no agreement on that question, and you might find that disappointing.  I don’t.  Being “metaphysically neutral” is something different than being “metaphysically blind” or “metaphysically deaf,” and that is what is to be avoided at all cost. That we are still debating these issues for means that they still matter to phenomenologists, and I think they should.  The crucial mistake is to want to end the debate.

A. I am very much on board with this concept of metaphysical plurality and flexibility – as long as it does not become arbitrary. The new volume is the result of a DFG funded network of young researchers you managed to install. Can you explain a little what the guiding idea (the Leitfaden, so to speak) behind the whole project was?

K. There were actually two goals that have been equally important.  One goal was to present an overview of the discussion from Husserl to the present.  We cover 21 different authors in the book, Lázló Tengelyi being the most recent when you order them by date of birth.  The problem with such a setup, however, is that if you present each author separately, you don’t immediately see what discussions and problems connect them.  Hence the second goal: to go beyond doxography.  Our strategy for achieving this in the making of the volume was that we met over the course of seveal years with the core-group of authors to discuss chapter drafts. The book emerges as the result of these longer discussions.  In writing the chapters, there were also certain requirements for the contributors: each chapter should present what an author has to say on metaphysical debates and concepts, that goes without saying. But each chapter now begins with a discussion of the notion of the “world” and it closes with a discussion of the notion of metaphysics that is articulated or implied by the work of an author.  So you can actually take the volume and read it sideways, as it were, concentrating on these passages.  And let me reiterate how thankful I am that contributors were willing to engage with this particular design for the volume.

A. In a sense, there is a vertical (chronological) order as well as a horizontal (thematic) order to the book, since some topics like realism vs. idealism, ontology, theology, metaphysics or indeed “world” show up in every chapter in one way or another. While I think it is fairly obvious why the notion of metaphysics a phenomenologist uses should be included in a volume of this title, especially given what you said about the diversity of approaches, it is not necessarily self-evident why a discussion of “world” should be.

K. No, that was the hypothesis I wanted to test in this project: that phenomenologists typically discuss problems associated with metaphysics with the help of or with regard to the notion of “world”.  There are exceptions, no doubt, but it is striking that this is a problem for Husserl, for which the world is the “universal horizon” and yet is, paradoxically, “open”; Heidegger famously talks about “being-in-the-world”, Merleau-Ponty about the “flesh of the world”; Fink explicitly discusses the “world problem”; Tengelyi’s magnum opus is entitled Welt und Unendlichkeit, World and Infinity.  This brought me to the idea that “world” could serve as a kind of hermeneutic key to interpreting and relating phenomenological authors.

A. Now that work on the volume is finished: do you reckon this strategy has proven its value?

K. I recall heated discussions of that question.  Its for our readers to judge whether the design of the volume is working.  It certainly helped me to understand debates in phenomenology better and the question gave the volume more structure than a typical handbook or a collection of essays would have had—and it was much more work to complete. But what I find interesting is that phenomenologists grapple with the notion of “world” while it is rarely at the center of attention in other branches of philosophy.  Strawson, for instance, defines “revisionary metaphysics” as the attempt to develop better structures for thinking about the world, in contrast to “descriptive metaphysics”, which describes the structures we simply have. But what is this “world” grasped in thought? Tell me more.

A. Since you mention other discourses, do you see a way in which focusing on metaphysical issues (or metaphysics as an issue in and of itself) allows to connect phenomenology to other enterprises dealing with such matters? After all, despite the fact that phenomenologists seem to thematise the world more than others, topics like the realism-idealism-divide, ontology and theology appear to be themes common to both phenomenological and non-phenomenological debates.

Generally, yes, although each of these debates is extended and one has to be very careful about how a problem is framed and how terminology is used.  I wrote my dissertation on realism in later Heidegger, and I can tell you that many different views go under that label.  If done right, however, I think it is very promising to bring phenomenology back into the discussion.  For example, Kris McDaniel has done interesting work on ontological pluralism relating and contrasting Heidegger’s Being and Time to Ted Sider’s influential ontology.  My hope is that the volume that is now coming out will allow more work of this kind in the domain of metaphysics.  Both its history and present in phenomenology offer a number of good starting points.

 

Klaus Held // Transzendentale Phänomenologie – Welt – Metaphysik

Klaus Held ist emeritierter Professor für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Hauptfelder seiner Forschungen sind die Phänomenologie von Edmund Husserl und Martin Heidegger, die antike Philosophie und die politische Philosophie.

Bekannt wurde Held insbesondere durch den Aufbau der Philosophie an der 1972 gegründeten Universität Wuppertal. Aufgrund seines eigenen Forschungshintergrundes hatte das Philosophische Seminar damit bereits seit seiner Etablierung einen international renommierten phänomenologischen Schwerpunkt.

Zu seinen bekanntesten Werken gehören Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik (1966), Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung (1980), Phänomenologie der politischen Welt (2010), Europa und die Welt. Studien zur welt-bürgerlichen Phänomenologie (2013) und Der biblische Glaube – Phänomenologie seiner Herkunft und Zukunft (2018).

 

Stefan Schmidt: Wie bei kaum einem anderen zeitgenössischen Phänomenologen spielt der Begriff der Welt eine zentrale Rolle in Ihren Arbeiten. Ihren eigenen Weltbegriff haben Sie ja insbesondere in der Aus­einandersetzung mit Husserl gewonnen, da Sie den Weltbegriff über den Horizontbegriff analy­siert haben. Gleichzeitig ist die Welt aber auch ein klassischer metaphysischer Gegenstand. Hat das für Ihre eigene Konzeption von Welt damals eine Rolle gespielt?

Klaus Held: Die Welt als klassischer Gegenstand der Metaphysik hat für mich zu Beginn meines Denkweges noch keine Rolle gespielt; denn in meinem ersten Buch „Lebendige Gegenwart“ (1966) ver­stand ich die transzendentale Phänomenologie noch im Geiste meines verehrten Lehrers Ludwig Land­grebe und seines Lehrers Edmund Husserl als radikale reflexive Vertiefung in die Innerlich­keit des Bewusstseins. Das änderte sich erst, als ich diesen an Augustins „in te redi“ erinnernden Weg der Phänomenologie verließ und mich in meinem zweiten Buch (1980) den „Vorsokrati­kern“ Heraklit und Parmenides zuwandte.

Ich möchte eine Erklärung dafür hinzufügen, warum dabei – wie Sie in Ihrer Frage schon an­deuten – die Welt für mich zum Hauptthema wurde: nicht etwa deshalb, weil ich mit dieser „Kehre“ meines Denkens die Grundhaltung der tran­szen­dentalen Reflexion aufgegeben hätte. Ganz im Gegenteil: Es war gerade diese Haltung, die mir die Augen für die Weltoffenheit des frühgriechischen Denkens öffnete, indem mir der fol­gende Zusam­menhang aufging: Die Grie­chen hatten zu Beginn des 6. vorchristlichen Jahr­hun­derts die neuartige Möglichkeit einer wis­senschaftlichen Erforschung der Welt entdeckt. Gegen Ende des Jahrhun­derts wurde diese neue Einstellung zur Welt von Heraklit und Parmenides erst­mals als solche reflektiert, indem sie die Frage stellten, wie eine solche Art von Erkenntnis über­haupt möglich ist. Sie beant­worteten die Frage mit einer Selbstunterscheidung der von ihnen beanspruchten echten Einsicht von der durchschnittlichen Denkart der Menschen, der dóxa der „Vielen“.

Diese Selbstunterscheidung war der – allerdings noch naive – Beginn einer Entwicklung, die schließlich bei Kant, dem in meinen Augen wichtigsten Denker der Neuzeit, zur transzendenta­len Reflexion und der daraus resultierenden „kopernikanischen Wende“ der Philosophie führte, in deren Nachfolge auch die Phänomenologie steht – jedenfalls nach dem Verständnis ihres Begründers Edmund Husserl. Mit der „vorsokratischen“ Kritik an den „Vielen“ beginnt die Distanznahme gegen­über dem, was Husserl „natürliche Einstellung“ nennt und was Hegel schon in der „Phäno­me­no­logie des Geistes“ als „natürliches Bewusstsein“ im Blick hatte. Die Distanznahme besteht darin, dass dem als fraglose Selbstverständlichkeit gewohnten Umgang des Men­schen mit dem, was ihm in der Welt begegnet, die Selbstverständ­lich­keit ge­nommen wird; in Husserls Sprache ausgedrückt, gerät der „Seinsglaube“ ins Wanken. So ent­steht die Einstellung der Philo­sophie, die zwar der natürlichen Einstellung widerstreitet, aber mit ihr auch etwas gemeinsam haben muss; denn Einstellungen sind Haltungen-zu-etwas, und ein Widerstreit zweier Einstellungen, bei dem die Beteiligten nicht aneinander vorbeireden, kann nur darin bestehen, dass beide sich auf dasselbe beziehen, doch in der Stellungnahme zu diesem Ge­mein­samen di­vergieren. Die­ses Gemeinsame kann aber nur die Welt sein, weil der „Seinsglau­be“, der durch die Distanznahme zur natürlichen Einstel­lung seine Selbstverständ­lichkeit ver­liert, sich auf die Welt bezieht.

 

S. Als klassischer Gegenstand der Metaphysik ist Welt traditionsgemäß neben der Seele und Gott Teil der metaphysica specialis. Wie verhält sich der von Ihnen charakterisierte phänomenologi­sche Weltbegriff zu dem klassischen metaphysischen Weltbegriff?

H. Als erstes muss man beachten, dass in dem gerade von mir skizzierten Zusammenhang unter „Welt“ nicht die Allheit oder der Inbegriff der Gegenstände oder eine Art von gigantisch großem Behälter für Alles zu verstehen ist. Es kann vielmehr nur der umfassende Zusam­men­hang ge­meint sein, der es überhaupt erst erlaubt, dasjenige, worauf sich der Seinsglaube des natürlichen Bewusst­seins bezieht, im Singular als „die Welt“ zu bezeichnen. Dieser Zusammen­hang ist konkret ein solcher von Sinn-Verweisungen, durch die sich die Spielräume für unser Verhalten eröffnen. „Die Welt“ – der Begriff nur im Singular gebraucht – ist der Horizont für alle so verstandenen Horizonte, der „Universalhorizont“. So ergibt sich aus der Kritik an den „Vie­len“, dem Auftakt der „Entselbstver­ständlichung“ der natürlichen Einstellung, zu­gleich die „Sache“ des Denkens: die Welt im phänomenologischen Sinne als Universalhorizont. Das be­deu­tet, dass die Philosophie nicht mit der Frage nach dem Sein begann, wie Heidegger, Aristote­les folgend, an­nimmt, sondern als do­xa­kritische Thematisierung der horizonthaft verstandenen Welt. Ein Beleg hierfür ist die Tat­sache, dass die so verstandene Welt bei Hera­klit mit der Be­zeichnung kósmos erstmals einen Na­men bekam. Im Blick auf diesen Zusammenhang habe ich gelegentlich die transzendentale Phäno­menologie der Welt als reflektierte Wieder­aufnahme der ursprünglichen Idee von Philosophie bezeichnet.

Im Rahmen des hier umrissenen phänomenologischen Verständnisses von „Welt“ kann ich zur Welt als Gegenstand der metaphysica specialis folgendes sagen: In meinen Augen hat Kant in der transzendentalen Dialektik der „Kri­tik der reinen Vernunft“ definitiv klargestellt, dass es von den erfahrungstranszendenten Gegenständen „Gott“, „Seele“ und „Weltganzes“ keine echte philosophi­sche Erkenntnis geben kann; denn es ist zwar auf rationale Weise möglich, diese Be­griffe zu bilden, aber ihnen fehlt die An­schauung, und dies gilt weiter auch für die transzendenta­le Phäno­menologie. Sie macht es aber wohl möglich, auf ganz neue Weise philosophisch von der Erfah­rung des „Weltganzen“ zu sprechen, weil die Welt als Universalhorizont dem natürlichen Be­­­­wusst­sein nicht als ein Gegenstand gegen­übersteht, sondern unge­gen­ständlich in dem endlos offenen Geschehen erfahren wird, dass jegliches Erscheinende auf anderes verweist.

Unter dem transzendental-kritischen Vorbehalt der Neutralisierung aller Aussagen über das Sein-von-etwas durch die phänomenologische Epoché hat die Phänomenologie die Möglichkeit, die Weisen zu analysieren, wie die Welt den Menschen begegnen kann: Indem wir uns bei jeglichem Verhalten in Horizonten, also partikularen Welten orientieren, eröffnet sich jeweils „Welt“, beispielsweise als „natürliche Lebenswelt“. Mit der Analyse dieser Spielart von Welt bewegt sich die transzendentale Phänomenologie zwar in der Nachfolge der philosophischen Kosmologie als einer „Abteilung“ der ehemaligen metaphysica specialis, aber sie ist keine Fortsetzung davon, ähnlich wie ich mit der „Phänomenologie der „politischen Welt“ (2010) zwar auf die traditionelle „praktische Philosophie“ Bezug genommen, aber sie nicht fortgeschrieben habe. Vergleichbar da­mit war auch schon mein Verhältnis zur philosophischen Theologie, als ich in meinem ersten Buch ver­suchte, Husserls Vermutung in den C-Manu­skrip­ten zu konkretisieren, die „lebendige Gegenwart“ impliziere ein Bewusstsein von Gott, und als ich in den Untersuchungen zu Heraklit und Parmenides für eine Gruppe von Sprüchen Heraklits phänomenologisch ein Ana­lo­gie-Den­ken rekonstruierte, worin dem Göttlichen als einzig-Einem der Name „Zeus“ zugleich zugesprochen und abge­sprochen wird. Auf dieser Linie bin ich auch in mei­nem bisher letzten Buch (2018) über den biblischen Glauben geblieben.

 

S. Würden Sie sagen, dass der Welt neben ihrer Rolle in der metaphysica specialis auch eine Bedeutung für die Ontologie als metaphysica generalis zukommt?

H. Die metaphysica generalis geht zurück auf die „Metaphysik“ des Aristoteles, der in der Ausar­beitung von Bestimmungen des Seienden als solchen die zentrale Aufgabe der Philosophie sieht. Dieses Selbstverständnis der Philosophie als Ontologie wurde gemäß meiner eingangs skizzier­ten Auffassung deshalb möglich, weil bei Aristoteles schon vergessen ist, dass die Welt das ur­sprüng­liche Thema der Philosophie bildete. Durch die phänomenologische Rückbesinnung auf diesen Primat der Welt verliert das „Sein“ die Vorrangstellung, die es für die Tradition der klas­sischen vortran­szendentalen Philosophie hatte. Deshalb verknüpfe ich die Phänomenologie im Unterschied zu Heidegger nicht mit der Seinsfrage.

Weil der „Seinsglaube“ durch die Epoché als radikale phänomenologische Reflexion seine Selbstverständlichkeit verliert, interpretiere ich die Phänomenologie in Übereinstimmung mit meinem verstorbenen Freund Antonio Aguirre als die ins Äußerste ihrer Radikalität gesteigerte pyrrhonische Skepsis. Mit der Phänomenologie als vollendeter Skepsis ist für mich jedes vortranszendentale ontologische Denken, das – in welcher Gestalt auch immer – ein bewusstseins-unbezügliches Sein voraussetzt, endgültig ad acta gelegt. Deshalb wundere ich mich darüber, dass auch von mir hochgeschätzte Fachkolleginnen und -kollegen die Beteiligung an der heute neu entfachten Diskussion über den philosophischen Realismus für eine vordringlich wichtige Aufgabe halten. Aber vielleicht ist mir wegen meines fortgeschrittenen Alters ein überzeugendes neues Argument für eine Wiederaufnahme der Realismus-Diskussion entgangen.

 

S. Mit Ihren letzten Bemerkungen zielen Sie auch bereits in den Kern unseres Forschungsnetzwerkes. Sich mit der Metaphysik auseinanderzusetzen und diese zu kritisieren, wie dies viele Phänomenologinnen und Phänomenologen getan haben, bedeutet noch nicht, auch selbst eine phänomenologische Metaphysik zu entwerfen. Kann es aus Ihrer Sicht überhaupt eine solche geben oder ist diese letztlich nicht doch ein hölzernes Eisen? Was würden Sie überhaupt unter einer phänomenologischen Metaphysik verstehen, und würden Sie Ihren eigenen Ansatz darunter einordnen oder davon distanzieren?

H. Bekanntlich bezog sich der Werktitel „Metaphysik“, die nicht auf Aristoteles selbst zurückge­hende Wortbildung „metá ta physiká“ („nach/hinter den auf die phýsis bezogenen [Untersuchun­gen]“), ur­sprünglich auf die bibliothekarische Anordnung der Schriften in der Gesamtausgabe seiner Wer­ke durch Andronikos von Rhodos im ersten Jahrhundert v. Chr. Die klassische Tradi­tion hat die Präposition „metá“ aber als Anzeige einer Dimension „hinter“ dem Erfahrbaren ver­standen. Des­halb scheint mir die Ausgangsfrage zu sein, ob sich unter den tragenden Gedanken im weiten The­menfeld der transzendentalen Phänomenologie, so wie ich sie verstehe, irgendwo eine unvermeid­liche Bezugnahme auf eine solche Dimension findet. Auf diese Frage könnte ich eine bejahende Antwort geben, weil für mich die transzendental-kritisch analysierte Weltoffen­heit des Menschen den Dreh- und Angelpunkt der Phänomenologie bildet und weil ich in Hus­serls Bestimmung der Welt als Universalhorizont, der ich in den bisherigen Ausführungen gefolgt bin, den folgenden inneren Widerspruch sehe:

Wenn „die Welt“ dasjenige Ganze ist, zu dem es kein Außerhalb gibt (die „Totalität“), impliziert das, dass sie als Universalhorizont nicht in einen sie um­schließenden Verweisungszusammenhang gehören kann. Diese Unmöglichkeit muss sich darin zeigen, dass das Horizonte eröffnende Verweisungsgeschehen irgendwo an ein Ende, eine Grenze stößt. Dies wiederum ist unmöglich, solange die Welt exklusiv als universaler Horizont bestimmt wird; denn zum Hori­zont gehört, dass das Verweisen nie abreißt. Damit erweist sich der Begriff der Welt als Horizont zwar nicht als falsch, wohl aber als einseitig; „Welt“ muss phänomenologisch noch eine andere Be­deu­tung haben. Diese Vermutung bestätigt sich für mich durch Heideggers phänomenologi­sche Ent­deckung der grundlegenden Bedeutung der Befindlichkeit in „Sein und Zeit“: Das Gan­ze als Welt wird auf vorgegenständliche Weise – nicht durch Horizonte vermittelt – erschlossen durch die tie­fen Stimmungen, die Heidegger später als Grundstimmungen bezeichnete. Vielleicht meldet sich in diesen Befindlichkeiten so etwas wie eine Kehrseite des Horizonts, die sich unse­rer Erkenntnis entziehen muss, um so das Erscheinende in sein Erscheinen freizugeben. Nicht ohne philosophi­sches Bauchweh könnte ich mich vielleicht auf den Versuch einlassen, diese Kehrseite unter Auf­nahme von Heideggers Vermutungen zu einer „Phänomenologie des Unscheinbaren“ als eine Dimension „hinter“ der horizonthaft erfahrenen Welt zu interpretieren. Doch auch dann würde ich vorziehen, diesen Versuch nicht als „metaphysisch“ zu deklarieren, weil die Idee einer Phänome­no­logie des Unscheinbaren bei Heidegger noch mit der Seinsfrage und nicht mit der nach der Welt verknüpft ist.

 

S. Insofern die Metaphysik als eine „Grenzwissenschaft“ verstanden werden kann, fragt sich, was dies für ihre Methode bedeutet. Lassen Sie mich daher zum Schluss fragen: Muss die Frage nach dem Ursprung der Welt letztlich über phänomenologische Analysen hinaus in eine spekulative Phi­losophie führen, wie wir dies bei Eugen Fink beobachten können? D.h. muss bei konsequen­tem Weiterdenken des Weltbegriffs Phänomenologie nicht doch irgendwann in Spekulation um­schla­gen?

H. Es wäre ein auffälliger Widerspruch zu meiner Kennzeichnung der transzendentalen Phänome­no­logie als vollendeter Skepsis, wenn ich mir erlauben würde, die Grenzen der deskriptions­gebunde­nen Analyse durch metaphysische Spekulationen zu überschreiten und so aus der Weltanalyse eine „Weltanschauung“ zu machen. Aus Eugen Finks phänomenologischen Analysen habe ich viel ge­lernt, und sie waren einer der Anstöße für meine eingangs erwähnte „Keh­re“ zur Thematisierung der „Welt“. Aber ich bestreite, dass wir Finks spekulativer Weltdeutung folgen müssen. Ein Bei­spiel: In dem nicht sehr umfangreichen Text über das Spiel als „Oase des Glücks“ (1957) ent­wi­ckelt Fink eine sehr schöne phänomenologische Analyse dieses Daseinsphänomens in den Grenzen dessen, was darü­ber de­skrip­tiv gesagt werden kann. In seinem großen Hauptwerk über das „Spiel als Weltsym­bol“ hingegen (1960) hält er diese Grenzen nicht mehr ein. Das wiederum verleitet ihn zu einer tiefsinni­gen Deutung des He­ra­klit-Spruches über die Kindesherrschaft, wonach dieser be­sa­ge, in ihrer Tiefe sei die Welt ein Spiel. Aber mit dem kühlen Blick der philosophiegeschichtlich gebildeten eng­lischen Philolo­gen betrachtet han­­­­delt es sich in Wirklichkeit um eine Variante von Hera­klits Kritik an den „Vie­len“: Ihr Leben steht ebenso wie das von spielenden Kindern (denen man erst seit Rousseau nicht mehr mit der seit der Antike selbstverständlichen Geringschätzung begegnet) unter der Herrschaft der Gedan­kenlosigkeit.

Mein jüngst verstorbener befreundeter Kollege Wolfgang Janke sieht in seinem vorletzten Buch „Fragen, die uns angehen“ (2016) die eigentliche Bestimmung des Menschen darin, dass sein Sein in sich selbst frag­li­ch ist. Deshalb kommt es in der Philosophie weniger auf die Antworten als auf die Fragen an, die nur dann echte Fragen bleiben, wenn wir darauf verzichten, durch spekulative Kraftakte Ant­wor­ten zu erzwingen. Dieser Verzicht lässt die Philosophie nicht verarmen: Wem es gelingt, durch phänomeno­logische Fragen unter Einhaltung der besagten Grenzen verborgen gebliebene Sinnzusammen­hänge aufzuweisen, der kann so im­mer noch etwas von den „staunenswerten Genüssen“ der Philo­sophie erleben, die der nüchterne Aristoteles im letzten Buch der „Niko­machischen Ethik“ er­wähnt.

Yohei Kageyama // „Die Sache der Metaphysik ist nichts hinter dem Seienden.“

Yohei Kageyama ist Associate Professor für Philosophie an der Kwansei-Gakuin Universität Hyogo. Seine Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie, moderne japanische Philosophie und praktische Philosophie.

Zu seinen Schriften gehört vor allem die Monographie Ereignis und Selbstverwandlung: Das Problem der Selbstheit in der Struktur und Entwicklung der Philosophie Heideggers (2015 auf Japanisch). Außerdem arbeitet er aktuell an einem Handbuch zu Heidegger in japanischer Sprache.

Der Phänomenologie in Deutschland ist Yohei seit einem Forschungsaufenthalt bei László Tengelyi in Wuppertal verbunden.

 

 

Tobias Keiling: Unser Projekt dreht sich um das Thema ‚phänomenologische Metaphysik‘. Deshalb ist meine Eingangsfrage, was Du darunter verstehen würdest. Gibt es für Dich bestimmte Positionen, die mit der Phänomenologie verknüpft sind? Oder ist es eher eine historische Bezeichnung für eine bestimmte philosophische Tradition? 

Yohei Kageyama: Unter ‚phänomenologischer Metaphysik‘ verstehe ich, streng genommen, die von der Zeit Husserls und Heideggers bis heute irgendwie fortgeführten bestimmten Versuche jener Philosophen, die sich als Phänomenologen charakterisieren. Man könnte auch Namen wie Heidegger, der normalerweise als Anti-Metaphysiker bekannt ist, dazu zählen, weil er in seiner metaphysischen Periode etwa von 1928 bis Mitte der 1930er Jahre eine Metaphysik aus phänomenologischer Perspektive entworfen hat. Heidegger hat dort versucht, seine Fundamentalontologie von Sein und Zeit, die in gewissermaßen vereinzeltes Dasein auseinander fällt, in den ontologisch früheren und weiteren Zusammenhang der Realität, die er ‚das Seiende im Ganzen‘ nennt, zu verlegen.

Eine solche Bewegung der Phänomenologie, die grob gesagt zwischen Egologie und Kosmologie schwebt, scheint mir Paradigma der phänomenologischen Metaphysik zu sein, das sowohl für andere Klassiker wie Lévinas als auch für neuere Autoren wie Tengelyi mehr oder weniger gelten würde. Aber dabei gilt es zu beachten, dass mehrere Denker darüber hinaus die absolute Einheit der urfaktischen Tatsachen selbst kritisch in Frage gestellt haben, wie es z.B. bei Heideggers ‚Entzug‘ oder Lévinas’ ‚Jenseits des Seins‘ der Fall ist.

Als ‚Phänomenologische Metaphysik‘ lassen sich also meines Erachtens solche Versuche der Phänomenologie bezeichnen, die in zwei Fronten stehen: Eine Front ist gegen eine rein egologische und insofern anti-realistische Tendenz der Phänomenologie gerichtet. Eine andere ist gegen die dekonstruktive Tendenz gerichtet, die zuweilen dazu neigt, auf eine einheitliche und insofern wissenschaftliche Auslegung der Erfahrung verzichten zu wollen. Der Begriff der ‚Welt‘, der in unserem Projekt an erster Stelle steht, scheint mir ebenfalls in dieser Spannung zu stehen.

Wenn man nun ‚phänomenologische Metaphysik‘ im weiteren Sinne nimmt, könnte man auch andere philosophische Strömungen hinzuzählen. Dazu gehört auch Kitaro Nishida, der Begründer der sogenannten Kyoto-Schule, der sich niemals als Phänomenologe bezeichnet hat. Nishida beschäftigt sich aber insofern mit phänomenologischer Metaphysik, als er mit seinen Begriffen von „reiner Erfahrung“, „Ort“ und „dem dialektischen Allgemeinen“ jeweils egologische Perspektivität und kosmologische Materialität in Einheit gebracht hat. Aber zugleich hat er in seiner späten Religionsphilosophie den sich absolut verbergenden Gott, die Einheit der Welt, als den Grund des Wissens bestimmt. Für mich ist also der Name ‚phänomenologische Metaphysik‘ sowohl die historische Bezeichnung für die phänomenologische Bewegung im engeren Sinne als auch die zu gewissem Grad spezifische Vorgehensweise und Thematik einer Auslegung der Erfahrung.

 

T.K.: Sowohl bei den Poststrukturalisten als auch in der sogenannten analytische Philosophien war ‚Metaphysik‘ lange Jahre vor allem die Bezeichnung für ein Philosophieren, das man ablehnte – sei es wegen der vermeinten Sinnlosigkeit metaphysischer Fragen oder weil man ‚die Metaphysik‘ zu sehr in ihrer Geschichte gefangen sah. Diese Ablehnung ist längst nicht mehr so stark. Sowohl in der Phänomenologie – ich denke etwa an László Tengelyi – als auch in den breiteren Debatten – etwa bei der Diskussion um den ‚spekulativen Realismus‘ oder den ‚neuen Realismus‘ – hat sich das sehr geändert. Wie siehst Du das? Gibt es bestimmte Gründe für eine ‚Rückkehr der Metaphysik‘?

Y.K.: Ich gehe davon aus, dass die Aufgabe der Philosophie darin besteht, auf die ἀρχή der Sache zurückzugehen, auch wenn man einen solchen Rückgang zugleich selbstkritisch in Frage stellen muss. Und ich glaube, dass diese Aufgabe eigentlich im Drang der menschlichen Vernunft tief verwurzelt ist. Deshalb ist die Rückkehr der Metaphysik, die auch Heidegger am Anfang in Sein und Zeiterwähnt, meines Erachtens an sich nicht überraschend. Ist man nicht mit der heutigen akademischen Philosophie, sofern man sie kaum von Linguistik oder Psychologie unterscheiden kann, begnügen, möchte man naturgemäß zur eigentlichen Aufgabe der Philosophie zurückgehen. László Tengelyi– mein Lehrer – hat mir einen Weg gezeigt, durch die strikt wissenschaftliche Analyse der Erfahrung Metaphysik zu erneuern.

Gegenüber dem von Dir erwähnten Sinnlosigkeitsvorwurf würde er auf das Thema der „Urfaktizität“ in der phänomenologischen Tradition seit Husserl und Heidegger hinweisen, weil damit die unhintergehbare Voraussetzung unserer sprachlichen Handlung, auf der der Sinnlosigkeitsvorwurf basiert, zu Tage tritt. Hinzuzufügen ist dabei, dass phänomenologische Metaphysik keineswegs die Relevanz der semantischen und pragmatischen Analyse selbst leugnen würde. Zum Vorwurf, in ihrer eigenen Geschichte gefangen zu sein, würde Tengelyi mit seinem Überblick der phänomenologischen Geschichtsschreibung in Frankreich antworten. Forscher wie Aubenque, Courtine und Marion zeigen bis heute immer wieder den inneren Reichtum und die Vielfältigkeit der Geschichte der Metaphysik, wenn sie sich mit dem homogenen Narrativ der Ontotheologie bei Heidegger auseinandersetzen. Während ich mich heute für Spekulativen Realismus und den Neuen Realismus sehr interessiere, scheint es mir doch, dass die Sache, die dort besprochen wird, schon mehrfach von den phänomenologischen Metaphysikern aufgegriffen worden ist. Was Meillassoux z.B. „Anzestralität“ nennt und mit mathematischer Naturwissenschaft verbindet, wurde in meiner Sicht vom Begriff des „Dawesens“ bei Oskar Becker vorweggenommen, der in  seiner Philosophie der Mathematik und Physik eingeführt wurde. Und „die Tatsache“, auf die sich Markus Gabriel in Warum es die Welt nicht gibtzur Verteidigung seines Realismus beruft, deckt sich mit „der Faktizität“ in Phänomenologie. Man denke etwa an Landgrebes klassischen Aufsatz „Faktizität als Grenze der Reflexion und Frage des Glaubens“.

 

T.K.: Ich finde es spannend, dass Du den Gedanken, Metaphysik sei „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“ (Kant) mit der Idee verknüpfst, es gebe einen Drang der Vernunft zur Metaphysik. Mich würde deshalb interessieren, woran Du diesen Drang oder dieses Begehren festmachen würdest. Gibt es Phänomene, die zur Philosophie gewissermaßen zwingen? Welche sind das für Dich? Und was unterscheidet die philosophische Suche nach der ἀρχή von anderen Arten, nach dem ‚Warum‘ zu fragen? Ist es eine graduelle Frage oder gibt es da einen grundsätzlichen Unterschied?

Y.K.:  Das hast Du sehr schwierige Fragen gestellt. Sie sind deshalb schwer zu beantworten, weil sie gerade die  ἀρχή der Metaphysik selbst betreffen. Von dieser ἀρχή müsste man wohl immer motiviert sein. Den Anfang kann man aber nicht leicht rückwärtsblickend begreifen, während man zugleich vorwärts schreitet. Ich wage trotzdem zu sagen, was ich ahne, wenn ich mich mit den Themen phänomenologischer Metaphysik beschäftige.

Den Drang zur Metaphysik könnte man in Anknüpfung daran beschreiben, was traditionell als das πάθοςder Philosophie im weiteren Sinne gekennzeichnet wurde: An erster Stelle kommt hier das θαυμάζεινbei Aristoteles, man könnte aber z.B. auch die Erhabenheit bei Kant oder Grundstimmungen wie Angst oder Langeweile bei Heidegger dazu zählen. Nishida nennt seinerseits die Trauer (Hi-ai) als die Grundmotivation der Philosophie. Auf jeden Fall geht es bei diesen Philosophen um die Erfahrung der Betroffenheit, in der sich die Endlichkeit des Seienden im Ganzen und damit etwas, was sich von diesem differenziert, abgehoben wird, sei es Sein überhaupt oder Gott. Meinerseits möchte ich über ein solches Thema im Kontext der wechselseitigen Kommunikation der Menschen nachdenken, die von den je unterschiedlichen Perspektiven diese Erfahrung der Differenz diskutieren und dadurch sehen lassen.

Der spezifische Fragecharakter der Metaphysik gegenüber anderen Formen der Untersuchung ist meines Erachtens dementsprechend zu bestimmen. Ich bin nämlich der Ansicht, dass die Metaphysik sowohl kontinuierlich als auch nicht-kontinuierlich mit den anderen Wissenschaften ist. Sie ist insofern kontinuierlich, als sie wenigstens als phänomenologische Metaphysik nie und nimmer unsere konkrete Erfahrung überschreitet, in der auch physikalische, kulturelle oder mathematische Gegenstände erscheinen. Die Sache der Metaphysik unterscheidet sich zwar vom konkreten Seienden im Ganzen, liegt aber nicht hinter dem Seienden. Gleichzeitig muss man auch die Eigenartigkeit der Metaphysik anerkennen, weil sie eine Denkbewegung ins Werk zu setzen strebt, die dem zu entsprechen sucht, was sich vom Seienden im Ganzen differenziert. Insofern steht ein Metaphysiker oder genauer ein Mensch, der jeweilig die Metaphysik vollzieht, vollkommen für sich. Die Metaphysik geht also wie Sokrates vor, der immer nur ein Bürger von Athen bleiben wollte, aber auch wie eine Bremse seine Mitbürger auffordert, dessen inne zu werden, was sich dem menschlichen Wissen immer entzieht.

 

 

 

 

 

Alexander Schnell // „‚Welt‘ ist auch heute noch ein fruchtbarer Begriff in der Phänomenologie.“

Alexander Schnell ist Professor an der Bergischen Universität Wupertal. 2016 übernahm er dort den Lehrstuhl für Theoretische Philosophie und Phänomenologie, den zuvor László Tengelyi innerhatte. Zuletzt hat Schnell mit Wirklichkeitsbilder (Tübingen 2015) eine Metaphysik und Anthropologie der Einbildungskraft vorgelegt. Thomas Arnold hat ihn für unser Projekt gefragt, was er unter phänomenologischer Metaphysik versteht.

 

Thomas Arnold:Unser Projekt dreht sich um das Thema “phänomenologische Metaphysik”. Wie sich herausstellt, lassen sich damit sehr unterschiedliche Projekte bezeichnen. Du hast selbst einen Ansatz vorgestellt, der phänomenologische Metaphysik und phänomenologische Anthropologie umfasst. Darf ich Dich zum Einstieg bitten, zu erläutern, was Du darunter verstehst?

Alexander Schnell: Die tiefe Einsicht Kants, dass das Feld der Philosophie in der Frage münde, was der Mensch sei, und die hierin deutlich werdende Anbindung metaphysischer Fragestellungen an philosophisch-anthropologische Aspekte, bleiben auch für die Phänomenologie gültig – trotz aller Anfeindungen, welche die Anthropologie von Seiten der Gründerväter der Phänomenologie erfahren musste. Ein Ansatz, der phänomenologische Metaphysik und phänomenologische Anthropologie umfasst, muss sich freilich fragen, ob hier die klassische, hierarchisierende Baummetapher (Descartes) zur Beschreibung der Anordnung der wissenschaftlichen Disziplinen noch anwendbar ist, oder ob es nicht vielmehr gilt, eine Begriffskonstellation auszumachen, die gleichermaßen für die Metaphysik unddie Anthropologie einen systematischen Rahmen liefert, innerhalb dessen die Behandlung und Vermittlung der Fragen nach den letzten „Gründen“ (natürlich immer unter Berücksichtigung der fundierungskritischen Einsichten der letzten 150 Jahre) und jener nach dem Menschen möglich ist.

In meiner langjährigen, ununterbrochenen Auseinandersetzung mit der deutschen und der französischen Phänomenologie sowie mit der Klassischen Deutschen Philosophie, zu der, von der Phänomenologie ausgehend, meines Erachtens weitaus mehr Verbindungslinien bestehen, als das gemeinhin angenommen wird, hat sich nach und nach eine solche Begriffskonstellation herauskristallisiert, in welcher die Ein-bildungs-kraft – in einer sehr umfassenden und weitreichenden Tragweite – im Mittelpunkt steht. Die generative Einbildungskraft – nicht mehr als Erkenntnisvermögen, sondern als „bildende“ Prozessualität jeglicher Sinnbildungverstanden – betrifft dabei so vielfältige Gebiete wie (1) das Problem, wie Husserls Anspruch nach radikaler Erkenntnislegitimation der Kritik an philosophischen Fundierungsansätzen standzuhalten vermag; (2) die Frage nach der phantasie- und einbildungsmäßigen Konstitution von Realität („vor“ bzw. „unterhalb“ jeglichem Wahrnehmungsbezug zur objektivierten Welt); (3) die Vermittlungsfunktion von „Sinn“ und „Wahrheit“; und eben auch (4) einen neuen Ansatz der phänomenologischen Anthropologie, in dem der „homo imaginans“ im Mittelpunkt steht.

In alldem soll eine transzendentalphänomenologische Position stark gemacht werden, die nicht einfach naiv zu Husserl zurückkehrt, sondern in der Ausbildung einer „konstruktiven“ bzw. „generativen“ Phänomenologie den Errungenschaften der philosophischen Auseinandersetzungen des letzten halben Jahrhunderts Rechnung trägt. Hierbei kehrt die Phänomenologie einerseits wieder zu ursprünglichen Fragestellungen zurück, welche die Absage an die notwendige Verbindung zur jahrtausendealten Tradition der Metaphysik von Grund auf in Frage stellt; und andererseits wird hierdurch die Öffnung (wie das im Grunde ja von Anfang an auch immer der Fall war) für alle möglichen „anderen“ Disziplinen, die ihr sowohl Gehalt als auch Kritikpotenzial verleihen, ermöglicht.

 

T. A. Ein Begriff, der im Verlauf unserer Arbeit immer wieder eine zentrale Rolle gespielt hat, ist der Begriff der Welt. Angesichts der Tatsache, dass es in der phänomenologischen Tradition viele Weisen gibt, die Welt zu bestimmen, stellt sich die Frage: können wir darunter eine besonders basale oder fundamentale Bestimmung ausmachen?

A.S. Die eindeutige Stärke des phänomenologischen Weltbegriffs besteht darin, die Frage nach der „Realität“ auf eine interessante Weise neu aufgeworfen zu haben. Hierfür ist insbesondere Heideggers Ansatz maßgeblich. Heidegger hatte ja in seiner Descartes-Kritik gezeigt, dass die intellektualistische Weise, sich eines Gewissheitsgrundes zu versichern, das – vom phänomenologischen Standpunkt aus betrachtet – absurde Problem der Realität der Außenwelt mit sich gebracht hat. Der genuin phänomenologische Ansatz muss dagegen darin bestehen, sowohl die einseitig erkenntnistheoretisch ausgerichtete Sichtweise zu verwerfen, als auch der zwar bezweifelbaren, dadurch aber nicht nichtigen „Realität eines Außen“ Rechnung zu tragen. Dies steht im engsten Zusammenhang mit der voll berechtigten Forderung nach einem „Sein“ (bzw. dessen Sinnaufklärung) jenseits der „Zeichen“, der „Konstruktionen“, der „Diskurse“, der „Systeme“.

Bei Heidegger ist es nun so, dass der Name für den Bezugspol der „Subjektivität“ (wie immer man sie auch auffasst), der die unmittelbare Gegebenheit eines „Außen“ je bezeugt, „Welt“ lautet. Mit Heidegger ist der Weltbegriff so in die Phänomenologie eingeführt worden, dass er eine bedeutsame Grundlage für die Frage nach dem „wirklich“ „Gegebenen“ liefert. Auf der Exstatizität bzw. Existenzialität des Daseins, die je ein „Zu…“ „hin“ zur Welt bedeutet, beruht ja die gesamte Existenzialanalyse in Sein und Zeit) Ich halte diese Art, den Weltbegriff zu behandeln, für plausibel. Andere Weisen sind denkbar und gewiss auch fruchtbar. So aufgefasst – das heißt zwecks einer grundlegenden Besinnung der Realitätsproblematik – ist und bleibt die Welt jedenfalls in der Tat eine besonders fundamentale Bestimmung.

 

T. A.Wie fruchtbar ist eigentlich die Welt als Thema aktueller phänomenologischer Projekte? Sollten wir uns überhaupt noch mit einem „Weltproblem“ (Eugen Fink) herumschlagen oder stattdessen nicht lieber mit einer Mannigfaltigkeit von „Sinnfeldern“ (Werner Marx, jetzt auch Markus Gabriel) oder wenigstens Lebenswelten beschäftigen?

A.S. Die Welt ist natürlich auch heute noch ein fruchtbarer Begriff in der Phänomenologie. Es kommt eben nur darauf an, was man unter „Welt“ versteht – und davon hängt dann auch ab, ob man behaupten kann, dass es die „Welt“ „gibt“ oder nicht. Das pauschaleBestreiten der Existenz der Welt ist keine ernsthafte Option, denn es sieht von diesem relativ trivialen Grundgedanken schlicht ab – was natürlich nicht bedeutet, dass dieser oder jener Weltbegriff zu Recht in seiner Fraglichkeit aufgewiesen werden kann.

Es ist offensichtlich, dass, historisch betrachtet, die ersten Ausarbeitungen einer „Phänomenologie der Welt“, bzw. einer „kosmologischen Phänomenologie“ der Rätselhaftigkeit bzw. Unbeantwortbarkeit der Seinsfrage geschuldet waren; auch lebensweltliche Ansätze gehören hierzu. Die konkrete Welthaftigkeit (Mundaneität) bot – und bietet – einen leichter zu veranschaulichenden Zugang zum jedes Seienden Übersteigenden, Transzendierenden, als das für das „Sein“ der Fall war. Hierbei können dann verschiedene Aspekte in den Vordergrund gerückt werden – sei es auf einer rein theoretischen, einer politischen oder einer ästhetischen Ebene. Freilich dürfen dabei die ontologischen Implikationen nicht übergangen werden, muss der Transzendenz-Bezug weiterhin im Vordergrund stehen und aufgeklärt werden.

Hierfür halte ich die implizite Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Levinas für besonders einschlägig. Ist die ursprüngliche Transzendenz des Daseins „welt“hafter Natur? Oder geht sie auf die „Alterität“, von jener her der Bezug zur Welt allererst aufbricht? Der einer solchen Debatte zugrundeliegende Gedanke besteht darin, dass allein das/der Andere Transzendenz aufscheinen lässt und es ermöglicht, jeglicher identifikatorisch-hegemonischen Tendenz zu entfliehen. Dass Levinas über diesen Weg eine ethische Dimension in die Frage nach Sein und Welt hineingetragen hat, ist und bleibt so bedeutsam wie diskussionswürdig. Man darf gespannt darauf sein, welche neuen Weltentwürfe die folgende Phänomenologen-Generation angesichts der jüngsten hoch spannenden technischen Entwicklungen, die noch genauerer Analysen harren, vorschlagen wird.

 

T.A. Als letztes möchte ich das Problem der Kompatibilität ansprechen. Inwieweit lassen sich Überlegungen aus der Phänomenologie (und besonders der phänomenologischen Metaphysik) mit anderen Ansätzen verbinden, seien sie analytisch, post-modern oder dem „neuen Realismus“ zuzuordnen? Wie produktiv kann da ein gemeinsamer Diskurs sein bzw. wie kann der Diskurs produktiv sein?

A.S. Hierzu vielleicht erst einmal ein kurzes Wort zu meinem Werdegang, der meine Sichtweise hierzu sicherlich nicht wenig mitbestimmt hat. Ich habe meine phänomenologische „Ausbildung“ in Frankreich genossen. In den phänomenologischen Kreisen der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts war dort die Auseinandersetzung etwa mit der „analytischen“ Philosophie verpönt (und umgekehrt ebenso). Glücklicherweise ringen diese Grabenkämpfe heute der jüngeren Generation nicht einmal mehr ein müdes Lächeln ab. Differenzierter war (und ist) es aber um den Bezug zur „Postmoderne“ bestellt. Zwar herrschte bei den Pariser Phänomenologen vor einem Vierteljahrhundert ein gewisses Misstrauen gegenüber Foucault oder Deleuze (und noch mehr gegenüber Lyotard oder Nancy), aber bei Denkern wie Richir sind (phänomenologische) Grundeinsichten Derridas – ganz gleich wie dieser sich auch immer zur Phänomenologie stellen mag – grundlegend in deren Werk eingeflossen. Die Produktivität eines vielleicht nicht gemeinsamen, aber zumindest auf die gleiche „Sache“ ausgerichteten Diskurses steht somit nicht erst seit der positiven Aufnahme des „post-modernen“ Diskurses durch die Phänomenologie außer Frage. Was diesen Austausch aber nach wie vorher verhindert, sind „Übersetzungsprobleme“ sowohl sprachlicher als auch begrifflicher Natur. Aber dies tangiert die jüngere Generation heute glücklicherweise weniger, als das noch bei der älteren der Fall war und teilweise noch ist.

Es besteht heutzutage also selbstverständlich überhaupt kein Problem mehr, was die Verbindung verschiedener philosophischer Ansätze aus unterschiedlichen philosophischen Traditionen angeht. An die Phänomenologen gerichtet (und dabei schließe ich mich selbstverständlich ein), steht aber eines zweifellos fest: Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um aus der sprachlich-terminologischen Enge, die die meisten phänomenologischen Texte kennzeichnet, herauszubrechen. Und darüber hinaus müssen sich die Phänomenologen weiterhin (trotz etwa der Bemühungen Finks) der methodologischen Voraussetzungen ihrer Grundannahmen klarwerden, weil nur so jene Standpunkte definiert werden können, von denen aus der Austausch mit anderen Positionen möglich ist.

Eine kurze Schlussbemerkung noch zum „‚neuen‘ Realismus“: Ich sehe in den diversen „neuen Realismen“ – seien sie „spekulativ“, „neutral“ oder wie auch immer – weniger eine originelle Philosophie, die neue Lösungsansätze bereithielte, als vielmehr ein wesentliches Symptom (und dieses derart klar in den Vordergrund gestellt zu haben, ist ein nicht unbedeutendes Verdienst dieser „Realismen“): ein Symptom dafür nämlich, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem sich „Neues“ offenbart und immer wirkungsmächtiger entwickelt, „Neues“ insbesondere in Bezug auf die Frage, was heute überhaupt unterRealitätverstanden werden kann, und für das uns scheinbar noch nicht die hinreichenden Mittel bereitstehen, es angemessen zu fassen. Aus verschiedenen Richtungen werden in letzter Zeit Ansätze entwickelt, um die Debatte zwischen der Phänomenologie und den „neuen Realismen“ voranzutreiben. Das ist natürlich gutzuheißen, wenngleich der wahre Widerpart letzterer in den starken transzendentalphänomenologischen Positionen zu suchen ist, was mir bisher in dieser Auseinandersetzung zu kurz zu kommen scheint. Hierfür sollte der Blick nach Frankreich gerichtet werden , ich denke an Arbeiten von –Marc Richir, Florian Forestier, Stanislas Jullien u.a.