Inga Römer // „Die Metaphysik ist zunächst ein Problem“

Inga Römer ist Professorin für deutschsprachige Philosophie an der Université Grenoble Alpes. Vor kurzem erschien im Felix Meiner Verlag der Sammelband Phänomenologie und Metaphysik/Phénoménologie & Métaphysique, herausgegeben von Inga Römer und Alexander Schnell.

 Tobias Keiling: Für das Thema dieses Blogs klingt der Titel Eures Bandes ja mehr als einschlägig. Kannst Du kurz berichten, wie es zu der Publikation kam?

Inga Römer: Im Jahr 2014 ist László Tengelyi verstorben. Kurz vor seinem Tod hatte er ein umfangreiches Werk zum Problem phänomenologischer Metaphysik fertiggestellt: Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik. Alexander Schnell und mir war es ein Anliegen, unseren Freund und Mentor dadurch zu würdigen, dass wir zu einer weiterführenden Diskussion über das von ihm in den Vordergrund gerückte Thema anregen. Einige Autoren unseres Bandes setzen sich direkt mit László Tengelyis Vorschlägen auseinander, andere widmen sich dem Thema unabhängig davon. Es gab aber auch noch einen institutionellen Grund für das Entstehen des Bandes. Alexander Schnell wurde im Jahr 2016 auf den Lehrstuhl für Phänomenologie und theoretische Philosophie in Wuppertal berufen, während ich im selben Jahr eine Professur an der Université Grenoble Alpes annahm. Wir haben Ende 2017 in Wuppertal und in Grenoble zwei Tagungen zum Thema veranstaltet, zu denen wir jene Kollegen einluden, die sich als wichtige Stimmen zum Thema im deutsch- und im französischsprachigen Raum hervorgetan haben (keineswegs jedoch auf Deutschland und Frankreich reduziert). Es war und ist uns ein Anliegen, dazu beizutragen, dass der fruchtbare Dialog deutsch- und französischsprachiger Phänomenologie in der nächsten Generation weitergeführt wird. Die Frage nach dem Verhältnis der Phänomenologie zur Metaphysik ist eine der Hauptfragen (selbstverständlich nicht die einzige), die diesen Dialog seit langem kennzeichnen – bis in die jüngsten Entwicklungen hinein.

K. Und was für sachliche Schwerpunkte legt Ihr? Was bedeutet für Dich „phänomenologische Metaphysik“?

R. Die sachlichen Schwerpunkte wurden von den Autoren selbst gesetzt. Der von Alexander Schnell und mir vorgeschlagene Leitfaden ist überaus allgemein und schließt an einen Gedanken an, der im Untertitel des Buches von László Tengelyi formuliert wird. Es heißt dort nicht „phänomenologische Metaphysik“, ja noch nicht einmal „Grundlegung zu einer phänomenologischen Metaphysik“ (wie ein Arbeitstitel vorübergehend lautete), sondern „zum Problem phänomenologischer Metaphysik“. Für László Tengelyi – wie für uns – hat die Metaphysik nicht nur Probleme, die sie behandelt, sondern sie hat auch selbst einen problematischen Charakter. Man könnte sagen: Sie hat nicht nur Probleme, sondern sie ist selbst eines.

Dieser Problemcharakter der Metaphysik ist in der Geschichte der Phänomenologie durchaus ernst genommen worden. Historisch gesehen ist die Haltung der Phänomenologie zur Metaphysik ambivalent. Einerseits wurde eine bestimmte Form der Metaphysik abgelehnt, andererseits wurden Versuche gemacht, metaphysische Fragen aus phänomenologischer Sicht neu zu stellen und auch zu beantworten. Diese ambivalente Haltung der Phänomenologie zur Metaphysik ist damit verknüpft, dass die Phänomenologie einerseits versucht hat, Kants Kritik der Metaphysik mit phänomenologischen Mitteln weiterzuführen, andererseits, übrigens auch wie Kant, nach einer neuartigen Figur metaphysischer Fragen und Antworten zu suchen. Während einige aktuelle Versuche einer Renaissance der Metaphysik dazu zu tendieren scheinen, hinter die Kritik an der Metaphysik zurückzufallen, sucht die Phänomenologie nach einem metaphysischen Fragen, das die seit dem 18. Jahrhundert formulierten kritischen Einwände berücksichtigt und integriert. Gerade aufgrund dieser Vorsicht in Hinblick auf metaphysische Fragen vermag die Phänomenologie aus unserer Sicht zu der aktuellen Debatte um eine Renaissance der Metaphysik einen bedeutsamen Beitrag zu leisten.

K. Eine Möglichkeit, diesen Ansatz einer kritischen Metaphysik genauer zu bestimmen besteht darin, sie als Transzendentalphilosophie zu verstehen. Würdest Du da mitgehen? Oder was zeichnet die spezifische Fragerichtung der Phänomenologie aus?

R. Merleau-Ponty schreibt im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung, die Phänomenologie sei kein System und keine Lehre, sondern eine Bewegung, mühsam wie das Werk von Balzac, Proust, Valéry oder Cézanne. In diesem Sinne scheint es mir auch keine einfache Antwort auf „die spezifische Fragerichtung der Phänomenologie“ in Hinblick auf das Problem der Metaphysik zu geben. Es kommt darauf an, welchen Phänomenologen man befragt.

K. Die Zurückhaltung verstehe ich gut – es gibt oft eine Spannung zwischen programmatischer Festlegung auf der einen Seite – das ist Phänomenologie, das soll sie sein – und den sehr verschiedenen Fragen und Perspektiven, mit denen eine Phänomenologin, ein Phänomenologe jeweils ans Werk geht. Aber da ich gerade mit einer Phänomenologin spreche: Wie würdest Du das Problem der Metaphysik bestimmen, und wie konkretisiert sich für Dich eine phänomenologische Herangehensweise?

R. Die Phänomenologie beginnt mit Husserls Aufruf „Zu den Sachen selbst!“ – und doch stehen auch Phänomenologen, wenn Sie diesem Aufruf zu folgen versuchen, in einer Überlieferungsgeschichte. Sie können sich von dieser Geschichte unbewusst bestimmen lassen, oder aber versuchen, sie sich zumindest in Teilen bewusst zu machen. Meines Erachtens muss sie den an zweiter Stelle genannten Weg einschlagen, da sie ansonsten Gefahr läuft, unbemerkt von überlieferten Begriffen bestimmt zu werden. Die Aufgabe des Phänomenologen ist dann, die Sache selbst so in den Blick zu nehmen, dass die Spannung zwischen dem mir jetzt gegebenen Phänomen und der herausgearbeiteten Überlieferungsfigur untersucht wird, um aus dieser Spannung heraus zu einer neuen, am Phänomen erprobten Denkfigur zu gelangen. Ich nenne dieses Verfahren eine kritisch-hermeneutische Phänomenologie (sie hat aber durchaus auch eine Nähe zu Adornos negativer Dialektik). Wie kann eine derartig verstandene Phänomenologie nun auf das Problem der Metaphysik angewendet werden? Indem man eine besonders differenzierte Denkfigur aus der Metaphysikgeschichte herausarbeitet und phänomenologisch auf die Probe stellt.

Vortrag von Inga Römer: „Was ist phänomenologische Metaphysik?“
Internationales Zentrum für Philosophie NRW, Universität Bonn, 2016

K. Wenn ich Dich richtig verstehe, versucht Du, den phänomenologischen Denkstil oder den phänomenologischen Ansatz in der Metaphysik also vor allem im Kontrast zu anderen Optionen aus der Geschichte der Philosophie zu bestimmen. An welche Figuren denkst Du konkret?

R. Es gibt selbstverständlich eine ganze Reihe von metaphysischen Konzeptionen, die hierfür in Frage kommen. Für mich ist die trefflichste das Denken Immanuel Kants. Kant hat sowohl eine scharfe Kritik an der Metaphysik formuliert als auch sein Leben lang nach einer neuartigen, nämlich kritischen Metaphysik gesucht. Diese doppelte Motivation macht seine Philosophie aus meiner Sicht besonders geeignet. Kant reduziert die ererbte Transzendentalphilosophie von einer Wissenschaft des Dinges als Dinges überhaupt auf eine Disziplin, die den Gegenstand der uns möglichen Erfahrung als solchen Gegenstand überhaupt untersucht. Diese Disziplin ist ihm zugleich die kritisch mögliche Ontologie. In den um 1793 verfassten Skizzen für eine Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (ein meines Erachtens viel zu wenig beachtetes Fragment) sagt Kant allerdings, dass diese Transzendentalphilosophie und Ontologie nur der Vorhof zur Metaphysik sei, jedoch nicht eigentlich zur Metaphysik gehöre, da die Metaphysik im eigentlichen Sinne es mit dem Übersinnlichen zu tun habe. Metaphysik ist ihm nunmehr die metaphysica specialis, welche sich mit den Fragen nach der Seele, der Welt und der Freiheit und mit Gott befasst.

K. Das heißt, Du würdest diese Denkfigur Kants für die Phänomenologie übernehmen? Vor allem Kants Verweis auf das „Übersinnliche“ scheint mir aus phänomenologischer Sicht problematisch oder zumindest ergänzungsbedürftig.

R. Das wäre zu stark gesprochen. Ich möchte diese Denkfigur Kants nicht für die Phänomenologie übernehmen, sondern sie an der Phänomenologie erproben und die Phänomenologie an ihr. Wenn Du erlaubst, würde ich daher vor der Beantwortung Deiner – völlig trefflichen – Frage nach dem Übersinnlichen zunächst auf die Frage nach Transzendentalphilosophie, Ontologie und Metaphysik in der Phänomenologie zu sprechen kommen.

Für mich ist Husserl maßgeblich für eine phänomenologische Reformulierung der Transzendentalphilosophie und Ontologie, während Heidegger, vor allem aber Levinas für die Frage nach der Metaphysik leitend sind. An dieser Antwort sieht man übrigens, dass heutige Phänomenologen, die in einer über einhundert Jahre alten Tradition stehen, auch die Denkfiguren ihrer eigenen Vorgänger eigens herausarbeiten müssen, um die Phänomene an ihnen zu erproben… Husserl hat (über seine neukantianisch inspirierte Kritik an einem Anthropologismus Kants hinaus) betont, dass eine phänomenologische Transzendentalphilosophie und Ontologie sich nicht auf die Bestimmung des Gegenstandes der Erfahrung überhaupt beschränken kann, sondern dass sie die Verschiedenheit der Gegenstandsbereiche berücksichtigen muss. Am Leitfaden eines Gegenstandes, der als Ausgangspunkt dient, sucht der Phänomenologe durch eidetische Variation nach dem phänomenologischen Wesen des Gegenstandes dieser Region. Das Ergebnis ist im Idealfall eine regionale Ontologie, etwa für die Region Natur, Geschichte, Mathematik oder auch fiktionale Literatur. Wie aber hängen diese verschiedenen regionalen Ontologien zusammen? Lassen sie sich von einer allgemeinen Ontologie des Gegenstandes als Gegenstandes überhaupt noch umfassen? Husserl spricht durchaus von einer formalen Ontologie, einer eidetischen Wissenschaft vom Gegenstande überhaupt bzw. vom „Etwas überhaupt“. Er betont jedoch, dass der Gegenstand der formalen Ontologie nicht eine allgemeinere Region in einer Reihe mit den materialen Ontologien ist, sondern es handele sich bei ihrem Gegenstand lediglich um die leere Form von Region überhaupt. Die leere Form von Region überhaupt aber ist unerfüllt durch eine Anschauung, die nach dem Prinzip der Prinzipien nötig wäre, um – kantisch gesprochen – die objektive Realität eines solchen Gegenstandes überhaupt auszuweisen.

Aus meiner Sicht verweisen diese aus den Ideen I stammenden Überlegungen Husserls auf ein transzendentalphilosophisches und ontologisches Programm, das noch heute Aufgabe der Phänomenologie ist: mithilfe des Prinzips der Prinzipen und dem Verfahren der eidetischen Variation nach regionalen Ontologien zu suchen und ihre Verhältnissen untereinander zu studieren, Verhältnisse, die vermutlich weniger hierarchisch als netzartig sind. Ein Netz regionaler Ontologien träte an die Stelle einer einzigen Ontologie des Gegenstandes überhaupt. Bei diesem Vorhaben steht der Phänomenologe jedoch vor dem Problem, welchen Gegenstand er als Ausgangspunkt einer Variation in Hinblick auf eine bestimmte Region nehmen soll, ja wie sich Regionen überhaupt bilden.

K. Wenn ich Dich richtig verstehe, willst Du Kants Rede vom Übersinnlichen also nicht einfach folgen, sondern schlägst zunächst vor, die Verankerung der Metaphysik in der Erfahrung, im Gegebenen, in der Faktizität für die verschiedene Teilbereiche der Wirklichkeit unterschiedlich zu konzipieren – mit Husserl. Kann dabei auch einer Geschichtlichkeit der Befunde Rechnung getragen werden?

R. Aus meiner Sicht gilt das kantische Wort von der Transzendentalphilosophie und Ontologie als bloßer Vorhof der Metaphysik (der es (noch) nicht mit dem Übersinnlichen zu tun hat und daher nicht eigentlich Metaphysik genannt zu werden verdient) umso stärker für die Phänomenologie. Der Grund dafür ist, dass wir es in der Phänomenologie nicht nur mit einem pluralen Netz regionaler Ontologien zu tun haben, sondern dass diese überdies eine historische Wandelbarkeit aufweisen. Husserl ist vor allem in seiner Spätzeit auf das Problem der Geschichtlichkeit eingegangen. Allerdings scheint er dabei jedoch stets an dem Ideal einer vollständigen Bestimmung, die letztlich die geschichtliche Relativität überwinden würde, festgehalten zu haben. Wir stehen aber immer mitten drin in der Geschichte und niemals an ihrem Ende. Daher ist dieses Ideal, selbst als bloßes Ideal, noch in Frage zu stellen. Was aber bedeutet diese Radikalisierung des Problems der Geschichtlichkeit für die Frage nach einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie und Ontologie? Um einen trefflichen Ausgangspunkt für unsere eidetische Variation zu finden, können wir uns weder auf das bloße Gegebensein eines wahrnehmungsmäßig oder phantasiemäßig gegebenen Ausgangsexempels beschränken, noch auf das Verständnis des Gegenstandes innerhalb eines bestimmten überlieferten Theorierahmens. Genauso wie wir als Phänomenologen die philosophische Überlieferungsgeschichte mit ihren Denkfiguren erforschen müssen, müssen wir auch die Wissenschaftsgeschichte und, allgemeiner gesprochen, die Geschichte der Disziplinen erforschen.

Zu achten haben wir dann gerade auf die Spannungen zwischen dem regionalontologischen Gegenstandsverständnis in einer Disziplin und unserer Erfahrung. Die Erforschung eben dieser Spannung mithilfe einer kritisch-hermeneutischen Phänomenologie kann zu Verschiebungen von Regionen, ihrer Verhältnisse untereinander und der jeweiligen regionalen Gegenstandsbestimmungen führen. Ja, es kann sogar dazu kommen, neue regionale Ontologien zu entdecken, womöglich gar solche, in denen der Gegenstandsbegriff entweder aufgegeben, oder zumindest erweitert werden muss, damit er so etwas wie Ereignisse oder Sachverhalte zu umfassen vermag. Dies sind große Aufgaben für die Phänomenologie, die es aus meiner Sicht in weiten Teilen noch zu bearbeiten gilt. Die Erforschung der genannten Spannung zwischen etablierten Denkfiguren und Disziplinen einerseits und lebendiger Erfahrung andererseits führt auf ein werdendes Netz regionaler Ontologien, in Hinblick auf das Entdecken und Erschaffen ineinandergreifen. Weder entdecken wir bloß theoriefrei und ohne jegliches „Ideenkleid“, noch kreieren wir Gegenstandsbegriffe, die rein aus ihrer Funktion in bestimmten Theorien entspringen. Es handelt sich vielmehr um ein Ineinander, das Proust in seiner literarischen Wesenserforschung in dem Satz pointiert hat „Chercher? pas seulement: créer“, „Suchen? Nicht nur: erschaffen“. Dieses historisch dynamische Netz regionaler Ontologien sollten wir jedoch meines Erachtens nicht als Metaphysik bezeichnen. Sie sind nicht eigentlich méta ta physiká, sondern bleiben unmittelbar bezogen auf das in der Erfahrung sich Zeigende und immer wieder Verschiebende.

K. Und was wäre dann aus Deiner Sicht phänomenologische Metaphysik im eigentlichen Sinne?

R. „méta ta physiká“ liegt das Ethische, das wesentlich anders beschaffen ist als das Streben nach Erkenntnis, sei sie transzendental, ontologisch oder empirisch. In der phänomenologischen Bewegung ist es Emmanuel Levinas, der dies am deutlichsten gesehen hat und er folgt damit einer kantischen Grundfigur. Für mich ist eine kleine Schrift von Levinas besonders bedeutsam, in der er seine Phänomenologie des Anspruchs des Anderen jenseits des Seins mit Kants reiner praktischer Vernunft, als ebenfalls einem Jenseits des Seins, in Verbindung gebracht hat. Es ist mir eine Aufgabe, diese Andeutung Levinas’ – denn um mehr handelt es sich kaum – zum Leitfaden einer ethisch bedeutsamen phänomenologischen Metaphysik in kritisch-hermeneutischer Hinsicht zu machen. Um noch einmal das drohende Missverständnis von vorhin zu vermeiden: Es handelt sich nicht darum, Kants Perspektive zu übernehmen, die Unterschiede zu nivellieren und so zu tun, als sei Levinas am Ende eigentlich Kant. Nein, es geht darum, die kantische Denkfigur eines Übersinnlichen, das ausschließlich im Ausgang von den Grenzen der Erfahrung und dem moralphilosophischen „Faktum der Vernunft“ erreichbar ist, mit Levinas’ Phänomenologie des Gesichts (sowie mit Levinas’ eigenen Stellungnahmen zu Kant) zu konfrontieren. Um die phänomenologische Transposition einer von Kant bloß inspirierten ethisch bedeutsamen Metaphysik zu erforschen, ist meines Erachtens noch auf einen anderen Aspekt einzugehen, der bei den frühen Phänomenologen zwar durchaus präsent ist, jedoch nicht immer hinreichend betont wurde: Der Phänomenologe ist durch und durch von Trieb und Begehren bestimmt, nicht nur im Praktischen, sondern auch im Theoretischen. Ich möchte, wenn Du noch einmal einen Umweg erlaubst, dies mit einem Eingehen auf Husserl und Heidegger erläutern, bevor ich dann noch einmal auf Levinas und die Fragen nach einer phänomenologischen Metaphysik im eigentlichen Sinne sowie auf die nach dem Übersinnlichen zurückkomme.

Bei Husserl ist in dieser Hinsicht das bedeutsam, was er als Triebintentionalität bezeichnet, bei Heidegger der aus einem Drang stammende Weltentwurf. Zunächst zu Husserl. Husserl vertritt die Auffassung, dass diesseits einer jeden auf einen Gegenstand gerichteten Intentionalität eine Triebintentionalität waltet, in der etwas triebmäßig intendiert wird, dessen genaue Gestalt noch nicht feststeht. Erst wenn wir einen Gegenstand finden, denken oder sagen wir „Das ist es, was ich suchte!“. Diese Triebintentionalität ist aber auch immer schon am Werk, wenn wir über die oben beschriebene Methode nach trefflichen regionalen Ontologien suchen. Wir haben als Phänomenologen also nicht nur auf die Spannung zwischen überlieferten Disziplinen und unseren Erfahrungen zu achten, sondern wir müssen auch ein besonders Augenmerk auf das Walten dieser so gearteten Triebintentionalität legen. So ein triebmäßiges Moment gibt es jedoch nicht nur in Hinblick auf einzelne Gegenstände, sondern auch hinsichtlich der Welt überhaupt.

Heidegger hat in seiner letzten Marburger Vorlesung in Auseinandersetzung mit Leibnizens Begriff einer vis activa den Gedanken eines Weltentwurfes entwickelt, der nicht nur einzelne Seiende, sondern das Seiende im Ganzen zu erfassen sucht. Dieser Weltentwurf entspringt nach Heidegger einem geschichtlich geprägten Drang. Der geschichtlich Existierende und in seiner Epoche Verwurzelte, entwirft über das Seiende hinaus ein Verständnis des Seienden im Ganzen, ein Verständnis, das jedoch zwangsläufig endlich, unvollständig und geschichtlich orientiert bleibt. Heidegger selbst spricht hier von einer Metaphysik des Daseins, und mit dem metaphysischen Entwurf des Seienden im Ganzen sucht er das aristotelische Gottesproblem als ein metaphysisches Weltproblem zu formulieren. Ich würde jedoch eher sagen, dass das Dasein im Menschen sich hier zwar als Metaphysiker versucht, es ihm jedoch nicht gelingt, sich vom geschichtlich geprägten Drang zu lösen. Es glaubt, das Seiende im Ganzen zu erfassen, verkennt jedoch, dass es stets nur eine endliche Perspektive erreicht, die aus seiner jeweils spezifischen geschichtlichen Verwicklung entspringt. Damit ist jedoch zugleich die Gefahr verbunden, dass das Dasein seinen Weltentwurf für den einzig möglichen hält. Es sucht nach einem metaphysischen Verständnis des Seienden im Ganzen, aber es erreicht nur einen endlichen Weltentwurf – der mit dieser Gefahr der Verwechslung behaftet ist, eine Gefahr, die in einigen historischen Epochen größer ist als in anderen.

K. Wenn ich das recht verstehe, dann kann man das auch als Scheitern der Seinsfrage beschreiben. Du würdest also sagen, dass es sich bei Heidegger entgegen seiner eigenen Behauptung nicht eigentlich um Metaphysik handelt?

Ja, genau. Phänomenologische Metaphysik im eigentlichen Sinne kommt aus meiner Sicht erst da auf, wo diese in letzter Instanz von Trieb und Drang gesteuerte Ausbildung von regionalen Ontologien und Weltentwürfen durch einen Sinn unterbrochen und in Frage gestellt wird, der sich im Gesicht des anderen Menschen als eines Anderen zeigt. Dieser Sinn ist, mit Levinas’ Worten, eine Rede, die zum Eingehen auf die Rede verpflichtet (Discours qui oblige à entrer dans le discours). Der Andere fordert in einem ethischen Sinne dazu auf, ihn nicht zu bekämpfen und nicht zu töten, sondern mit ihm zu sprechen und auf seinen Anspruch einzugehen. Er fordert jedoch zugleich damit dazu auf, die eigene Sicht auf die Dinge und die Welt in Frage zu stellen und sie ihm nicht mit schierer Macht aufzudrängen. Erst dieser Diskurs, den Levinas selbst als eine phänomenologische Umarbeitung von Kants reiner praktischer Vernunft versteht, sowie die durch ihn eingesetzte Freiheit verdienen es recht eigentlich, unter dem Titel einer phänomenologischen Metaphysik erörtert zu werden. Es gibt zwar die Suche nach regionalen Ontologien und ihrer Vernetzung, es gibt Versuche von Weltentwürfen. Eine phänomenologische Metaphysik im eigentlichen Sinne beginnt jedoch erst mit dem Sinn jenseits des Seins, des Dranges und der Macht. Und nun endlich zurück zu Deiner in der Schwebe gebliebenen Frage nach dem Übersinnlichen. Die kantische Figur des „Übersinnlichen“ wird bei Levinas zum Begehren des Anderen, welches durch den ethischen Sinn jenseits des Seins strukturiert wird und das Streben nach Erkenntnis und Herrschaft durch ethische Bedeutsamkeit unterbricht. Es handelt sich dabei um ein Übersinnliches im Sinnlichen selbst, um eine ethische Bedeutsamkeit, die in das Fühlen und Begehren selbst eindringt. (Es ist hier nicht unser Thema, aber meines Erachtens lässt sich auch umgekehrt, inspiriert von der Phänomenologie und vor allem von Levinas, bei Kant selbst eine ähnliche Figur finden, zumindest im Sinne eines projizierten Zieles. Nach dem späten Kant ist der Mensch dazu aufgefordert, das von ihm selbst projizierte Jenseits dieser Welt, das Übersinnliche reiner praktischer Vernunft, in diese Welt einzuführen.)

K. Aber warum ist die phänomenologische Metaphysik notwendig ethisch? Kann sich das Scheitern metaphysischer Bestrebungen nicht auch anders bekunden denn als ethisch?

Die phänomenologischen Untersuchungen haben auf das geführt, was Heidegger offenbar einmal eine „Phänomenologie des Unscheinbaren“ genannt hat. Seit Jahrzehnten ist es eine Hauptfrage der Phänomenologie, wie dieses Unscheinbare charakterisiert werden kann und wie sich das in jener Formulierung steckende Paradox verstehen lässt. Gibt es nicht etwa verschiedenartige Entzugsfiguren, die im Phänomen auf das Unscheinbare und damit auf die Grenzen der Phänomenalität verweisen? Durchaus. Mein Verdacht ist jedoch, dass die meisten der vorgeschlagenen Entzugsfiguren zwar das Scheitern der Metaphysik in ihrer theoretischen Grundausrichtung deutlich machen, jedoch nicht in einem positiven Sinne zu einer neuartigen phänomenologischen Metaphysik hinausweisen. Nicht ohne Grund war die Phänomenologie jahrzehntelang in erster Linie metaphysikkritisch. Sie bewegte sich gleichsam im Fahrwasser der transzendentalen Dialektik von Kants erster Kritik, der zufolge eine Phänomenalisierung der Totalität unmöglich ist. Kant aber gelangt von diesem negativen Ergebnis über seine praktische Philosophie schließlich zu einem positiven Ergebnis, demzufolge eine neue, ganz anders geartete Metaphsik kritisch möglich sei. Levinas ist aus meiner Sicht derjenige Denker, der in seiner von ihm so bezeichneten „Phänomenologie des Gesichts“ immer schon diese Möglichkeit eines neuartigen, ethisch bedeutsamen Metaphysiktypus gesehen hat – und dies für die Phänomenologie.

Nun habe ich so viel gesprochen und doch Wesentliches unerwähnt gelassen. Das alles hat etwa aus meiner Sicht auch noch ganz grundlegend mit der Zeit zu tun. Aber das würde hier wohl zu weit führen…

K. … es würde mich aber interessieren. Vielleicht möchtest Du diesen letzten Schritt noch erklären? Du hast auf jeden Fall ein wirkliches Panorama der Metaphysik gegeben, vielen herzlichen Dank!

R. Ich ringe mit der Zeit seit ich versuche, mich mit der Phänomenologie im Denken zu orientieren. Bisher jedenfalls bin ich dabei nicht weit genug gekommen, um die Frage nach dem Zusammenhang von Transzendentalphilosophie, Ontologie und Metaphysik mit der Zeit in wenigen Zeilen beantworten zu können! Vielen herzlichen Dank, lieber Tobias, für diese Momente des symphilosophein (auch hinter den Kulissen des geschriebenen Interviews), die für mich überaus anregend waren.