Yohei Kageyama // „Die Sache der Metaphysik ist nichts hinter dem Seienden.“

Yohei Kageyama ist Associate Professor für Philosophie an der Kwansei-Gakuin Universität Hyogo. Seine Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie, moderne japanische Philosophie und praktische Philosophie.

Zu seinen Schriften gehört vor allem die Monographie Ereignis und Selbstverwandlung: Das Problem der Selbstheit in der Struktur und Entwicklung der Philosophie Heideggers (2015 auf Japanisch). Außerdem arbeitet er aktuell an einem Handbuch zu Heidegger in japanischer Sprache.

Der Phänomenologie in Deutschland ist Yohei seit einem Forschungsaufenthalt bei László Tengelyi in Wuppertal verbunden.

 

 

Tobias Keiling: Unser Projekt dreht sich um das Thema ‚phänomenologische Metaphysik‘. Deshalb ist meine Eingangsfrage, was Du darunter verstehen würdest. Gibt es für Dich bestimmte Positionen, die mit der Phänomenologie verknüpft sind? Oder ist es eher eine historische Bezeichnung für eine bestimmte philosophische Tradition? 

Yohei Kageyama: Unter ‚phänomenologischer Metaphysik‘ verstehe ich, streng genommen, die von der Zeit Husserls und Heideggers bis heute irgendwie fortgeführten bestimmten Versuche jener Philosophen, die sich als Phänomenologen charakterisieren. Man könnte auch Namen wie Heidegger, der normalerweise als Anti-Metaphysiker bekannt ist, dazu zählen, weil er in seiner metaphysischen Periode etwa von 1928 bis Mitte der 1930er Jahre eine Metaphysik aus phänomenologischer Perspektive entworfen hat. Heidegger hat dort versucht, seine Fundamentalontologie von Sein und Zeit, die in gewissermaßen vereinzeltes Dasein auseinander fällt, in den ontologisch früheren und weiteren Zusammenhang der Realität, die er ‚das Seiende im Ganzen‘ nennt, zu verlegen.

Eine solche Bewegung der Phänomenologie, die grob gesagt zwischen Egologie und Kosmologie schwebt, scheint mir Paradigma der phänomenologischen Metaphysik zu sein, das sowohl für andere Klassiker wie Lévinas als auch für neuere Autoren wie Tengelyi mehr oder weniger gelten würde. Aber dabei gilt es zu beachten, dass mehrere Denker darüber hinaus die absolute Einheit der urfaktischen Tatsachen selbst kritisch in Frage gestellt haben, wie es z.B. bei Heideggers ‚Entzug‘ oder Lévinas’ ‚Jenseits des Seins‘ der Fall ist.

Als ‚Phänomenologische Metaphysik‘ lassen sich also meines Erachtens solche Versuche der Phänomenologie bezeichnen, die in zwei Fronten stehen: Eine Front ist gegen eine rein egologische und insofern anti-realistische Tendenz der Phänomenologie gerichtet. Eine andere ist gegen die dekonstruktive Tendenz gerichtet, die zuweilen dazu neigt, auf eine einheitliche und insofern wissenschaftliche Auslegung der Erfahrung verzichten zu wollen. Der Begriff der ‚Welt‘, der in unserem Projekt an erster Stelle steht, scheint mir ebenfalls in dieser Spannung zu stehen.

Wenn man nun ‚phänomenologische Metaphysik‘ im weiteren Sinne nimmt, könnte man auch andere philosophische Strömungen hinzuzählen. Dazu gehört auch Kitaro Nishida, der Begründer der sogenannten Kyoto-Schule, der sich niemals als Phänomenologe bezeichnet hat. Nishida beschäftigt sich aber insofern mit phänomenologischer Metaphysik, als er mit seinen Begriffen von „reiner Erfahrung“, „Ort“ und „dem dialektischen Allgemeinen“ jeweils egologische Perspektivität und kosmologische Materialität in Einheit gebracht hat. Aber zugleich hat er in seiner späten Religionsphilosophie den sich absolut verbergenden Gott, die Einheit der Welt, als den Grund des Wissens bestimmt. Für mich ist also der Name ‚phänomenologische Metaphysik‘ sowohl die historische Bezeichnung für die phänomenologische Bewegung im engeren Sinne als auch die zu gewissem Grad spezifische Vorgehensweise und Thematik einer Auslegung der Erfahrung.

 

T.K.: Sowohl bei den Poststrukturalisten als auch in der sogenannten analytische Philosophien war ‚Metaphysik‘ lange Jahre vor allem die Bezeichnung für ein Philosophieren, das man ablehnte – sei es wegen der vermeinten Sinnlosigkeit metaphysischer Fragen oder weil man ‚die Metaphysik‘ zu sehr in ihrer Geschichte gefangen sah. Diese Ablehnung ist längst nicht mehr so stark. Sowohl in der Phänomenologie – ich denke etwa an László Tengelyi – als auch in den breiteren Debatten – etwa bei der Diskussion um den ‚spekulativen Realismus‘ oder den ‚neuen Realismus‘ – hat sich das sehr geändert. Wie siehst Du das? Gibt es bestimmte Gründe für eine ‚Rückkehr der Metaphysik‘?

Y.K.: Ich gehe davon aus, dass die Aufgabe der Philosophie darin besteht, auf die ἀρχή der Sache zurückzugehen, auch wenn man einen solchen Rückgang zugleich selbstkritisch in Frage stellen muss. Und ich glaube, dass diese Aufgabe eigentlich im Drang der menschlichen Vernunft tief verwurzelt ist. Deshalb ist die Rückkehr der Metaphysik, die auch Heidegger am Anfang in Sein und Zeiterwähnt, meines Erachtens an sich nicht überraschend. Ist man nicht mit der heutigen akademischen Philosophie, sofern man sie kaum von Linguistik oder Psychologie unterscheiden kann, begnügen, möchte man naturgemäß zur eigentlichen Aufgabe der Philosophie zurückgehen. László Tengelyi– mein Lehrer – hat mir einen Weg gezeigt, durch die strikt wissenschaftliche Analyse der Erfahrung Metaphysik zu erneuern.

Gegenüber dem von Dir erwähnten Sinnlosigkeitsvorwurf würde er auf das Thema der „Urfaktizität“ in der phänomenologischen Tradition seit Husserl und Heidegger hinweisen, weil damit die unhintergehbare Voraussetzung unserer sprachlichen Handlung, auf der der Sinnlosigkeitsvorwurf basiert, zu Tage tritt. Hinzuzufügen ist dabei, dass phänomenologische Metaphysik keineswegs die Relevanz der semantischen und pragmatischen Analyse selbst leugnen würde. Zum Vorwurf, in ihrer eigenen Geschichte gefangen zu sein, würde Tengelyi mit seinem Überblick der phänomenologischen Geschichtsschreibung in Frankreich antworten. Forscher wie Aubenque, Courtine und Marion zeigen bis heute immer wieder den inneren Reichtum und die Vielfältigkeit der Geschichte der Metaphysik, wenn sie sich mit dem homogenen Narrativ der Ontotheologie bei Heidegger auseinandersetzen. Während ich mich heute für Spekulativen Realismus und den Neuen Realismus sehr interessiere, scheint es mir doch, dass die Sache, die dort besprochen wird, schon mehrfach von den phänomenologischen Metaphysikern aufgegriffen worden ist. Was Meillassoux z.B. „Anzestralität“ nennt und mit mathematischer Naturwissenschaft verbindet, wurde in meiner Sicht vom Begriff des „Dawesens“ bei Oskar Becker vorweggenommen, der in  seiner Philosophie der Mathematik und Physik eingeführt wurde. Und „die Tatsache“, auf die sich Markus Gabriel in Warum es die Welt nicht gibtzur Verteidigung seines Realismus beruft, deckt sich mit „der Faktizität“ in Phänomenologie. Man denke etwa an Landgrebes klassischen Aufsatz „Faktizität als Grenze der Reflexion und Frage des Glaubens“.

 

T.K.: Ich finde es spannend, dass Du den Gedanken, Metaphysik sei „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“ (Kant) mit der Idee verknüpfst, es gebe einen Drang der Vernunft zur Metaphysik. Mich würde deshalb interessieren, woran Du diesen Drang oder dieses Begehren festmachen würdest. Gibt es Phänomene, die zur Philosophie gewissermaßen zwingen? Welche sind das für Dich? Und was unterscheidet die philosophische Suche nach der ἀρχή von anderen Arten, nach dem ‚Warum‘ zu fragen? Ist es eine graduelle Frage oder gibt es da einen grundsätzlichen Unterschied?

Y.K.:  Das hast Du sehr schwierige Fragen gestellt. Sie sind deshalb schwer zu beantworten, weil sie gerade die  ἀρχή der Metaphysik selbst betreffen. Von dieser ἀρχή müsste man wohl immer motiviert sein. Den Anfang kann man aber nicht leicht rückwärtsblickend begreifen, während man zugleich vorwärts schreitet. Ich wage trotzdem zu sagen, was ich ahne, wenn ich mich mit den Themen phänomenologischer Metaphysik beschäftige.

Den Drang zur Metaphysik könnte man in Anknüpfung daran beschreiben, was traditionell als das πάθοςder Philosophie im weiteren Sinne gekennzeichnet wurde: An erster Stelle kommt hier das θαυμάζεινbei Aristoteles, man könnte aber z.B. auch die Erhabenheit bei Kant oder Grundstimmungen wie Angst oder Langeweile bei Heidegger dazu zählen. Nishida nennt seinerseits die Trauer (Hi-ai) als die Grundmotivation der Philosophie. Auf jeden Fall geht es bei diesen Philosophen um die Erfahrung der Betroffenheit, in der sich die Endlichkeit des Seienden im Ganzen und damit etwas, was sich von diesem differenziert, abgehoben wird, sei es Sein überhaupt oder Gott. Meinerseits möchte ich über ein solches Thema im Kontext der wechselseitigen Kommunikation der Menschen nachdenken, die von den je unterschiedlichen Perspektiven diese Erfahrung der Differenz diskutieren und dadurch sehen lassen.

Der spezifische Fragecharakter der Metaphysik gegenüber anderen Formen der Untersuchung ist meines Erachtens dementsprechend zu bestimmen. Ich bin nämlich der Ansicht, dass die Metaphysik sowohl kontinuierlich als auch nicht-kontinuierlich mit den anderen Wissenschaften ist. Sie ist insofern kontinuierlich, als sie wenigstens als phänomenologische Metaphysik nie und nimmer unsere konkrete Erfahrung überschreitet, in der auch physikalische, kulturelle oder mathematische Gegenstände erscheinen. Die Sache der Metaphysik unterscheidet sich zwar vom konkreten Seienden im Ganzen, liegt aber nicht hinter dem Seienden. Gleichzeitig muss man auch die Eigenartigkeit der Metaphysik anerkennen, weil sie eine Denkbewegung ins Werk zu setzen strebt, die dem zu entsprechen sucht, was sich vom Seienden im Ganzen differenziert. Insofern steht ein Metaphysiker oder genauer ein Mensch, der jeweilig die Metaphysik vollzieht, vollkommen für sich. Die Metaphysik geht also wie Sokrates vor, der immer nur ein Bürger von Athen bleiben wollte, aber auch wie eine Bremse seine Mitbürger auffordert, dessen inne zu werden, was sich dem menschlichen Wissen immer entzieht.